Wer ist nicht schon einmal in Prag gewesen? Die Goldene Stadt beeindruckt jährlich mehrere Millionen Touristen. Wer sie wirklich kennenlernen möchte, muss dorthin gehen, wo sich die Prager treffen. Das sind die Kneipen. Dort beginnt die Oper „Die Ausflüge des Herrn Broucek“ von Leoš Janáček, aufgeführt am 20. März 2025 in der Berliner Staatsoper Unter den Linden – die 2. Aufführung nach der Premiere am 16.03.2025. Deren Uraufführung war 1920. Nun wurde die Handlung in der Regie von Robert Carsen einige Jahre in die Zukunft transferiert. Herr Brouček (Peter Hoare), ein einsamer und unglücklicher Vermieter, der sich nur fürs Trinken und für Würstchen interessiert, verweilt im Jahr 1969 in seiner Lieblingskneipe. Peter Hoare torkelt über die Bühne und lässt keinen Zweifel daran, dass er einen Mann im Vollrausch spielt. Trotzdem singt er mit voller Stimme und Kraft, eine Meisterleistung.
Herr Brouček träumt sich in andere Sphären und Zeiten. Seine erste Reise führt ihn auf den Mond. Kurz zuvor hat er die Bilder der ersten Mondlandung der US-Amerikaner in seiner Kneipe im Fernsehen gesehen. Mit der Mondbevölkerung kommt Herr Brouček ebenso wenig zurecht wie mit den Menschen auf der Erde. Auf dem Mond leben Hippies, die „Moonstock“ feiern und angewidert sind vom Fleischkonsum des Herrn Brouček. Das fantastische Bühnenbild von Radu Boruzescu überzeugt, die Mondbewohner sind benebelt vom Duft der Blumen, befinden sich in anderen Sphären, die Farben sind beeindruckend – geradezu absurd jetzt Schweinebraten und Knödel zu bestellen. „Maso! Maso!“ (dt. Fleisch)

Peter Horares Gegenpart ist der Tenor Aleš Briscein, ein Frauenheld, der in den Reisen in Zeit und Raum in unterschiedlichen Gestalten auftritt und gesanglich stets zu überzeugen weiß. Ihm zur Seite steht die Sopranistin Lucy Crowe, die ebenfalls in unterschiedliche Rollen schlüpft und großartige Höhen erreicht.

Auf dem Mond wird viel getanzt, ekstatisch – wild. Zwischendurch werden historische Filmaufnahmen der Rückkehr vom Mond und der Landung im Wasser gezeigt, die Besatzung der Apollo 11, die als Helden in den USA gefeiert werden. Das Orchester unter der Regie des Meisters Sir Simon Rattle zeigt, dass Janačeks Oper auch als Filmmusik interpretiert werden kann.
Nach der Pause nimmt das bis dahin heitere Stück eine jähe Wendung. Herr Brouček unternimmt eine weitere Reise. Diese bringt ihn in die Vergangenheit. Im 15. Jahrhundert herrscht Krieg zwischen Anhängern des Reformators Jan Hus und den Truppen des römisch-deutschen Königs Sigismund. Die Hussiten fordern Herrn Brouček auf, mit ihnen in die Schlacht zu ziehen. Doch er empfindet keine Emotionen für deren Sache.
Vergangenheit und Gegenwart, in der das Stück spielt, verschwimmen in diesen Szenen. Es ist nicht mehr eindeutig, ob es sich wirklich um die Hussitenkriege oder doch vielmehr um den Prager Frühling von 1968 handelt.

Besonders und beeindruckend ist der Einsatz eines Dudelsacks zur hymnenhaften Untermalung der Proteste und Kämpfe.
Es wird über Jan Hus gesprochen, aber an der Wand hängen Bilder von Jan Palach, der sich aus Protest gegen den Einmarsch der sowjetischen Truppen auf dem Prager Wenzelsplatz verbrannt hatte. Filmaufnahmen aus der Zeit zeigen die Proteste der Bürger und den Trauerzug um Jan Palach.
Herr Brouček soll kämpfen, er hat jedoch keine Waffe und er will auch nicht kämpfen, er soll stattdessen Verletzte pflegen. Die Malá Strana ist bereits eingenommen, die Feinde haben bereits die Moldau überquert. Dramatik in der Musik – Dramatik auf der Bühne.

Gleichzeitig wird der Gegensatz Christenwelt zum „unchristlichen“ Böhmen aufgemacht. Der Antichrist ist das Übel. Eindrucksvoll singt der Staatsopernchor (Einstudierung Gerhard Polifka). Kunka singt das Vater-Unser – im Wechsel mit einem Soldatenchor, der mit eigenem Text zum Kampfe aufruft.
In beiden Konflikten sind die äußeren Mächte zu stark für die widerständigen Tschechen. Sie verlieren die Hussitenkriege und das Experiment der demokratischen Reformen des Prager Frühlings in der sozialistischen Tschechoslowakei scheitert. Ablenkung finden die Tschechen beim Bier und Eishockey.
In ihrem Lieblingssport besiegen sie die Sowjetunion Ende der 1960er Jahre, wie die historischen Aufnahmen auf der Bühne zeigen. Tanzend kommen die Eishockeyspieler auf die Bühne. Ein großes Hurra! Triumphierende Musik erfüllt die Atmosphäre mit Stolz und Glück und Leichtigkeit.
Ein Freudenchor und großer Jubel über den Sieg über die Feinde reißt alle mit.
Herr Brouček tut im Hintergrund so, als ob er dazugehören würde. Doch der Schwindel fliegt auf. Er ist kein Held auf dem Schlachtfeld oder auf dem Eis, sondern ein Spießer, der nur an seinen eigenen Vorteil denkt. Zur Strafe wird Herr Brouček mit Eishockeyschlägern verprügelt. Er muss ins Fass gesperrt werden, als schwarze Seele beschimpft.
So endet seine zweite Reise. Er kehrt in sein Stammlokal zurück. Doch auch hier ist Ende der 1960er Jahre nicht mehr alles so wie früher. Waren seine Ausflüge und „Zeitreisen“ nur Albträume?
Zum Schluss, so viel sei hier verraten, erwartet die Zuschauer ein überraschender Schreckmoment. Es ist vor allem ein unterhaltsamer Abend mit viel tschechischem Humor und großartigen Melodien, aber auch eine kluge Parabel über eine kleine Nation zwischen Pathos, Patriotismus und politischer Indifferenz.
Im Foyer angeregter Austausch, man vernimmt inspirierte Unterhaltungen, „ich muss unbedingt mal wieder nach Prag“ ist zu hören.