„Die Walküre“ in Bayreuth

Seit mehreren Jahren ist der „Diskurs Bayreuth“ bei den Bayreuther Festspielen bereicherndes Programm mit Diskussionen, Installationen, Ausstellungen und Gesprächsrunden, die das traditionelle Festspielprogramm mit dem Bayreuther Kanon der zehn Wagner-Werke herum erweitern, erzählen und mit durchaus kritischen Diskursen hinterfragen. Aber auch Auftragswerke erlangten so das Licht der Welt.

Was hat sich nun aber alles geändert seit jenem Ausfalljahr 2021: Der für letztes Jahr mit Spannung erwartete, neue Ring im Dirigat von Pietari Inkinen, auf den Katharina Wagner zusammen mit Regisseur Valerie Schwarz durch jenen „Ring Award“, einer seit 1997 alle drei Jahre in Graz vergebenen Auszeichnung für junge Leute unter 35, aufmerksam wurde, musste abgesagt werden. Und nicht etwa dieses Jahr konnte es dann soweit sein – die Wagnergemeinde muss sich sogar noch bin in den nächsten Festspielsommer auf die Neuproduktion der „Tetralogie“ vertrösten.

So konnte in diesem Jahr mit dem bestehenden Diskurs-Format aus der Not eine Tugend gemacht werden, indem aus der regulären Folge (im Prinzip hat nur einmal zuvor Placido Domingo sich am Pult mit einer losgelösten „Walküre“ ohne den „Restring“ versucht) für das Festspielhaus losgelöst von allen inszenatorischen Zwängen kurzfristig Altmeister Hermann Nitsch gewonnen werden konnte, auch besser bekannt als so genannter „Blutkünstler“, der in den letzten Jahrzehnten im Rahmen des Wiener Aktionismus so manche „Blut-Orgien-Mysterien-Spiele“ sogar in Opernproduktionen integrieren durfte.

Zeitlich und räumlich vor diesem „Walküren“-Singulär am 29.07.2021 fand unter dem Motto „Ring 20.21“ dann noch eine vormittägliche „Rheingold“-Adaption als weiteres Auftragswerk mit Uraufführung von Gordon Kampe am von Tobias Kratzer vor zwei Jahren erstmals „Tannhäuser“-erprobten Festspieltümpel am Fuße des Hügels statt, die mit einer von Chiharu Shiota linksseitig der Festspielauffahrt aufgestellten „Götterdämmerungs“-Installation und einem virtuellen Drachenkampf („Sei Siegfried“) in den Walkürenpausen vor dem Königsportal (der künftige „Parsifal“-Regisseur Jay Scheib gab hier eine Kostprobe seiner 3D-Kunst) den „Ring an einem Tag“ zusammenfassten. Das klingt spannend, und war es auch, – zum Teil.

Denn: Vor allem der virtuelle Drachenkampf lässt auf einen spannenden „Parsifal“ für 2023 hoffen. Aber auch „Das Rheingold – Immer noch Loge“ in einer einstündigen Fassung am Vormittag zwischen Seerosen und drei festspielerprobten Enten, die sich auch von drei Rheintöchtern im trüben Tümpelwasser neben der Festspielauffahrt nicht vertreiben ließen, wollte die Aktualität und Moderne der Wagnerschen Urfassung mit allerlei aktuellen Bezügen im Text von Paulus Hochgatterer besonders hervorheben.

Was es im Prinzip nicht unbedingt gebraucht hätte, aber durch die überaus engagierte und mit jedem Wort verständliche, sehr mit Mikrofonen verstärkte Interpretation von Daniela Köhler, Stephanie Houtzeel und Günter Haumer konnte die Aufführung als adäquate Einstimmung auf die mit Spannung erwartete „Walküre“ in weitgehender „Ring“-Besetzung des nächsten Jahres am Nachmittag dienen. Vor allem Klaus Florian Vogt als Siegmund und Lise Davidsen als Sieglinde, aber auch der künftige „Ring“-Dirigent Inkinen standen unter besonderer Beobachtung.

Klaus Florian Vogt (Siegmund), Lise Davidsen (Sieglinde), Foto Enrico Nawrath
Klaus Florian Vogt (Siegmund), Lise Davidsen (Sieglinde), Foto Enrico Nawrath

Wenige Tage zuvor hatte Günther Groissböck die Partie des Wotan nicht nur dieses Jahr, sondern gleich ganz und künftig hingeschmissen und damit endlich einmal wieder für einen typischen Bayreuth-Skandal gesorgt. Alle also in Erwartung einer spannenden Aufführung, von der man durch den Vorspann leicht vergessen konnte, dass es sich von vornherein um eine aus der Not geborene, allenfalls halbszenische Veranstaltung des „Diskurses Bayreuth“ handeln sollte. Im Bühnenhintergrund die für Hermann Nitschs Malerstatisten aufgestellte, riesig-weiße Leinwand als dreiflügeliges Triptychon, während im Vordergrund Stühle für die jeweilig im Akt benötigten Sänger aufgestellt wurden.

Für jeden Akt diese Ausgangsposition, mussten sich diese zunehmend erst auf die Situation einstellen. Was dann aber im dritten Akt spätestens dazu führte, dass die Sänger selbst die Zügel in die Hand nahmen und auch schauspielerisch selbst für ein wenig spielerische, dramatische Intensität zu sorgen verstanden. Die von Nitsch im Hintergrund über das Triptychon und den Bühnenboden verteilten Farbkombinationen – literweise und massiv, aber langsam verrinnend, mal am Boden händisch geschrubbt oder mit Bürsten verwischt und mit finalem Höhepunkt dann auch quer über die Leinwand verteilt – sorgten zwar durchgehend für eine angemessene Bebilderung über Verläufe, Mischungen und Farbintensitäten, in die man sich erst hineindenken musste.

Entsprechend dem im Programmheft näher beschriebenen theoretischen Überbau der Inzest durch ein passendes „Rot“ der Blutschande bemalt, erschien doch ein mit „Baldrian“ (zumal noch welche Farbe?) beschriebener Orgasmus allzu altersmilde-entrückt beschrieben. Auch die zu Siegmunds Tod hereingeführte und alsgleich aufs Kreuz geschnürte Statistin in weißem Kleid und verbundenen Augen, mit blutroter Farbe verschmiert und die im dritten Akt hereingetragene Monstranz ließen eher Assoziationen mit dem Weltabschiedswerk „Parsifal“ aufkommen. Als Hauptproblem allerdings entpuppte sich die schon auf der Bühne nicht im geringen Maße vorherrschende Statik erst, nachdem auch aus dem Graben keine adäquate Entsprechung zu vernehmen war.

Auch wenn manche Passagen der doch an so vielen Stellen lyrischen „Walküre“ zart und mit Ansätzen zu Sphärenklängen angespielt wurden, wirkte dies an allzu zu vielen Stellen zufällig, und vor allem: nicht durch angemessene Einstudierung geplant. Gleich zu Beginn des ersten Aktes, wenn der Sturm vorüber und die Liebe beginnt, brach der musikalische Spannungsbogen zum ersten Mal ab. Das setzte sich fort, und das Vorspiel zum zweiten Akt geriet nicht mehr als verschwommenes Aufbäumen, aus dem man – wie an so vielen anderen Stellen ebensowenig – keine (wie auch immer, ob bewusst zurückhaltend oder besonders betont) herausgearbeiteten Motive, keine Linie, keine Dynamik erahnen konnte.

Das erschreckte, und man darf darauf hoffen, das im nächsten Jahr für eine Neuproduktion des „Ring“ wesentlich mehr probiert wird. Unter dem Dirigat mit extrem langsamen Tempi (rund zwanzig Minuten schneller war Kirill Petrenko seinerzeit) hatten offenkundig auch die Sänger zu leiden: Denn als im dritten Akt die Dramatik des Walkürenrittes und der anschließende Ärger des Wotan durch polterndes Orchester seine gute Entsprechung gefunden hatte, mussten auch noch deutliche Abstimmungsprobleme zwischen dem (sehr gut und ausgeglichen intonierenden) „Walküren“-Ensemble und der Musik verzeichnet werden.

Auch hatte man den Eindruck, dass der zunehmend aus seinen Reserven schöpfende Tomasz Konieczny als kurzfristig eingesprungener Wotan durch mangelnde Zurückhaltung aus dem Graben nicht ausreichend gestützt wurde. Alles in allem wirkte das Dirigat daher leider doch (noch) überfordert. Die (natürlich im Gesamtkontext mit den Malereien im Hintergrund nicht gewollte) Glut des ersten Aktes verstanden das Wälsungenpaar Vogt und Davidsen dadurch auch nicht adäquat zu vermitteln.

Wenngleich: Gerade die nicht immer textverständliche, so doch exquisit in nuancierter Gestaltungskraft und spannender Klangfarbe den Textinhalt wunderbar vermittelnde Lise Davidsen mit ihrer groß-dramatischen Stimmanlage, die nie ins forcieren geriet, konnte durch das statische Umfeld besonders genossen werden. Und auch Klaus Florian Vogts Siegmund, nicht über die Nuanciertheit seiner geliebten Schwester verfügend, überzeugte absolut durch seine Klarheit und Ausdruckskraft, könnte aber noch mehr phrasieren und spannungsvoll freier (besonders in der „Todesverkündigung“) interpretieren (was an diesem Tag durch die Umstände aber besonders schwer erschien).

Der Hunding von Dmitry Belosselskiy mit unpräziser Intonation konnte dagegen an diesem Abend nicht gegen das Zwillingspaar bestehen. Die Fricka von Christa Mayer mit glockenklarem, textverständlichem und präzisem Mezzo wurde am Ende vom Publikum zu Recht bejubelt. Iréne Theorin, die vor Jahrzehnten in Bayreuth ihre Karriere als eine der acht Walküren begonnen hatte, vermochte mit Gestaltungskraft und formenden Spannungsbögen wie in der „Todesverkündigung“ zufrieden zu stellen.

Konieczny als Wotan startete mit guter Textverständlichkeit und authentisch erzählend in den langen Monolog, musste am Ende der kräftezehrenden Partie Tribut zollen. Am Ende sollte nochmals festgehalten werden, dass Aufführungsrahmen und Aufführung selbst im Rahmen des „Diskurses Bayreuth“ stattfanden (damit nicht regulär als Festspielaufführung), sondern vielmehr aus den Umständen heraus eine Tugend machten. Lieber ein bisschen „Ring“ als keiner, und auch für Hermann Nitsch späte Genugtuung und Ritterschlag für seine Liebe zu Wagner. Am Ende gab es einige Buhs für den Künstler, sehr viel Ablehnung für den Dirigenten, aber Jubel für die Sänger.