Die Oper Leipzig zeigt einen neuen „Rosenkavalier“ vor dem Hintergrund der Zeitenläufte. Die Produktion von Michael Schulz nimmt sich dabei überzeugend der Doppelmoral an.
Die Feldmarschallin hat die Zeichen der Zeit erkannt und zieht sich zurück. Sie überlässt in wissender (Alters-)Weisheit der jüngeren Generation das Feld. Tieftraurig-tränenrührend ist das, von Richard Strauss in seelig-süßer Melodienflut komponiert, die gleichwohl tiefgründiger und wahrhaftiger nicht sein könnte. Der bodenständige Bajuware hat die Charaktere aus Hugo von Hofmannsthals Feder verschmitzt und ironisch-augenzwinkernd vertont. Luftig und schmissig, vor allem aber: abgrundtief. Schließlich ist der deutsche Strauss nicht der österreichische Walzerkönig. Die Walzer im „Rosenkavalier“ sind die anspruchsvollsten seiner Zunft, mit variantenreichen Modulationen und Rückungen. Und damit eben auch modern als zeitloser Spiegel sozialkritisch und in seiner Doppelbödigkeit zu deuten.
In der Neuproduktion für die Oper Leipzig hat sich Michael Schulz genau dieser Doppelmoral in einem Setting (Bühne Dirk Becker) angenommen, das bewusst nicht „in der Zeit der ersten Regierungsjahre Maria Theresias, um 1740“ spielt., sondern über verschiedene Epoch durchkonjugiert wird. Denn schon den Schöpfern des „Rosenkavalier“ war bewusst und wichtig, dass der Rahmen eben keinem detaillgetreuen Zeitrahmen zu entsprechen hatte. Und so hat das Regieteam das Schlafzimmer der Feldmarschallin im ersten Akt im Jugendstil angesiedelt: Die „Antichambrier-Kammern“ als kleine Vorzimmer links und rechts auf der Bühne platziert, thront vor den im Stile Alfons Muchas bemalten Wänden mit Kornfeld und Sonnenstrahlen das Bett, indem sich die reife Marschallin mit dem 17jährigen Knaben Octavian vergnügt.
Das Liebesnest im Mucha-Kornfeld ist doppelbödige Anspielung auf des Baron von Lerchenaus Schwärmerei für die „jungen Mägde aus dem Böhmischen“: „Ihrer zwei, dreie halt‘ ich oft bis im November mir im Haus. Dann erst schick‘ ich sie heim! Zur Ernte kommen sie und auch ansonsten anstellig und gut – dann erst schick ich sie heim.“ Auf ihre Weise frönt ja auch die Feldmarschallin ihrer Lust an den jungen Männern. Und so ist die Ausgangslage gesetzt für die musikalische Komödie als sozialkritische Auseinandersetzung zwischen Macht, -missbrauch und sexueller Allmachtsfantasien.
Das Fazit vorweg: diese Lesart geht auf, und zwar völlig. Sicher mag dem ein oder anderen Besucher*in mit anderer Sehgewohnheit des oft im belanglosen Plüsch gezeigten Werkes die Drastik und Deutlichkeit des Regiegedankens missfallen haben. Bei näherer Betrachtung liegt sie aber im Werk selbst und ist damit ganz im Sinne einer werkgetreuen Aufführung zu sehen. Denn was ist das Stück anderes als ein Stück über den Generationenkonflikt, über das Altern mit zentraler „Zeit“-Arie der Feldmarschallin und dem Sieg der Jugend?
Die Feldmarschallin erkennt schon am Ende des ersten Aktes, dass ihre Beziehung zum minderjährigen Cousin nicht halten kann und darf. Damit unterscheidet sie sich im weiteren Verlauf auch deutlich von dem des Barons. Solen Mainguené beginnt die Rolle in jugendlicher Frische und in variablen Elan voller blinder Verliebtheit, der während der Heiratsvertragsunterzeichnung sichtbar umschlägt. „Die Zeit, die ist ein sonderbar‘ Ding“ gerät der jungen Französin aus Orange ganz wehmütig und tiefgründig beseelt. Ihr Spiel ist von enorm eindringlicher Bühnenpräsenz.
Beim Baron Ochs auf Lerchenau ist die Sache ganz anders gelagert: Er will sich neu verheiraten und ist gleichzeitig und beständig dabei, jungen Frauen hinterher zu steigen. Die neue Heirat mit detailliert aufgesetztem Vertrag ist ein in strengen Banden und Regeln vollzogener Ritus, der seine nachvollziehbare Entsprechung im Bühnenbild des zweiten Akts findet. Das Hause Faninals ist nämlich in seiner braunen Vertäfelung und dem Reichsadler an der Decke im biederen Burschenschafts-Deutschland des ausgehenden 19. Jahrhunderts angesiedelt.
Der Baron mit seiner in bayrischen Lederhosen gekleideten Livrée-Dienerschaft (Kostüme Renée Listerdal) ist damit derbe und deftig so aufgestellt, dass er in diese Epoche damit so ganz und gar hineinpasst. Tobias Schabel versteht die Partie mit authentischer Spielfreude zu darzustellen, vermag mit Blick auf die musikalische Präsenz und Ausdrucksstärke aber nicht völlig zu überzeugen.
Der Verlauf ist bekannt: Rosenkavalier Octavian als Überbringer der Rose an Sophie, die im braunen Burschenschaftsheim ihres Vaters als Trophäe dem Baron überreicht werden soll, spielt nicht mit. Und im Gegenteil zur Feldmarschallin ist Patriarch Ochs ja nicht bereit, auf seine Gelüste nach jungen Frauen zu verzichten. Und so überzeugt das Bühnenbild des dritten Aktes umso weiter und –mehr, wenn das „Tête à tête“ mit dem als Mädchen mit großem Plüschteddy verkleideten Octavian im nunmehr zum Bordell umfunktionierten Mucha-Schlafzimmer der Feldmarschallin spielt, das dabei gleichzeitig auch noch in die Diskozeit der 1980er mit bunten Lichtern und Spiegelkugel an der Decke transponiert wurde.
Štĕpánka Pučálková ist dabei ein wunderbar eindringlich spielender und singender Octavian. Ihre Interpretation lässt aufhorchen, da sie in ihrer Intensität und Ausdruckskraft bei gleichzeitig sensibler und variabler Intonation eine Fülle und Bandbreite zu verströmen vermag, die in jeder Nuance und in jeder Passage eine angemessene Stimmung zu vermitteln versteht. Selbst die der Rolle immanente Silbrigkeit konnte beim Timbre vernommen werden. Der Baron ist gealtert und tritt zum Date mit dem angeblichen Dienstmädchen alt und gebrechlich auf: Von der Regie wird er zudem als „Opa Hoppenstedt“ kostümiert. Jene Figur, die in den Sketchen von Loriot für rückwärtige Senilität und Vergangenheit dargestellt wurde.
Auch die Sophie von Olga Jelínková vermochte mit klarer Intonation zum einen die junge Verliebte, zum anderen aber vor allem auch die „nein-sagende“ Tochter zu geben. Mit kristallinen Timbre ihres hell gelagerten Soprans ergänzte sie das Trio der drei starken Frauen, die am Ende ein wunderbar harmonierendes, eindrückliches Terzett darboten. Neben dem abschließenden Duett „Ist ein Traum, kann nicht wirklich sein“ sorgten die drei Sängerinnen für den musikalischen Höhepunkt des Abends.
In den weiteren Rollen überzeugten Mathias Hausmann als Faninal mit handfestem Bariton, Caroline Stein als Leitmetzerin mit klarer Intonation und Piotr Buszewski, der als Sänger im Minnesänger-Kostüm seine italienische Arie zum Besten. Der Valzacchi von Álvaro Zambrano blieb etwas blass.
GMD Christoph Gedschold führte das Gewandhausorchester Leipzig in behenden, variablen Tempi durch die Partitur, während doch einige Passagen an diesem Abend bisweilen etwas überhastet und indifferent herausgearbeitet wurden. Alles in allem gelang jedoch eine stringente Interpretation, die die vereinzelten Buhs nicht rechtfertigten.
Die Feldmarschallin hat – indem sie den Baron des Platzes verweist und sich für die neue, junge Liebe zwischen Sophie und Octavian zurückzieht – die Zeichen der Zeit erkannt. Und das im Gegensatz zum Baron. Um es deutlich zu formulieren: Die Macher des „Rosenkavaliers“ offenbaren im Stück nicht ihre eigenen Altherrenfantasien. Und das im gleichen Sinne, wie Loriot als Schöpfer von „Opa Hoppenstedt“ niemals als Verbreiter tradierter Frauenklischees gesehen werden kann. Genau im Gegenteil ist er doch der glasklare Kritiker, der mit dem Einbau dieser reaktionären Figur in seine Sketche die überkommenen Rollenbilder der Frauen zeigt und kritisiert. Und auch beim neuen Leipziger „Rosenkavalier“ nützt eine solche Ausdeutung mehr als sie schadet, zeigt sich doch darin die Fortschrittlichkeit des Werkes mit seiner Sozialkritik selbst.
Weitere Aufführungen am 4., 12. Mai und 14. Juni 2024.