Das Teatro Real präsentiert eine herrlich undeutsche Neuproduktion des deutschen Schicksalswerks. Das liegt vor allem an der musikalischen Seite, denn Pablos Heras-Casado am Pult lotet die Feinheiten und Schattierungen in der Partitur detailliert aus.
Mit der Überschrift wird schon so manches Motto gesetzt, und so wirbt das Teatro Real mit seiner Neuproduktion, die auch noch an der Oper Kopenhagen und am Nationaltheater Brno zu sehen sein wird, mit dem spanischen Titel: „Los maestros cantores de Núremberg.“
Dabei sind „Die Meistersinger von Nürnberg“ ja eigentlich ein deutsches Schicksalswerk im negativen Sinne. Aufmärsche, Triumphmusik, schmetternde Heilsrufe. Alles sicher im Kolorit des mittelalterlichen Nürnberg verpackt, aufgenommen und vom großen Blender Wagner grandios überzeugend variiert und mit neuem Sinn versehen. Gewürzt mit Bachscher Kontrapunktik und Martin-Luther-Choral als musikalische Begleitung ist sich der kleine Sachse auch im Spätwerk treu geblieben, wenn altes Material (siehe u.a. „Lohengrin“, „Tannhäuser“, „Fliegender Holländer“) für neue Visionen herangezogen werden.
Nichtsdestotrotz: Von der musikalischen Seite her sind die „Meistersinger“ nicht zu verachten. Vielmehr: sie sind ein Meisterwerk. Zum „echten“ Schicksalswerk entwickelte sich das Stück bekanntermaßen erst durch seine (Bayreuther)-Rezeptionsgeschichte mit Höhepunkt im Zweiten Weltkrieg, wo zu den „Kriegsfestspielen“ 1944 für müde Soldaten auf Heimaturlaub nur die „Meistersinger“ auf dem Programm standen. Zuvor hatte sich Adolf Hitler (meist bewusst in zivilem Frack gekleidet) ehrfürchtig-zurückhaltend bei den Festspielen gezeigt.
Bedingt durch das Ende des Stücks mit der mindestens problematischen Schlussansprache des Hauptprotagonisten („Habt Acht! Uns dräuen üble Streich…“) liegen die Misslichkeiten aber nun einmal auch im Werk selbst. Und diese Immanenz macht es schwer, wie die nun präsentierte Regiearbeit von Laurent Pelly offenbarte.
Der umtriebige Theatermann und Opernregisseur aus Paris siedelt die „Maestros cantores“, jener bürgerlich-handwerklichen Dichter- und Sängerzunft im Mittelalter, die mit Hans Sachs als Schuster in die Geschichte einging, in einer irgendwie gelagerten, dystopischen Szenerie (Bühne Caroline Ginet) an, die überall zu finden sein könnte. Der Raum mit über die Akte hinweg einheitlich links und rechts mit hochgezogenen Fensterfronten versehenen Wänden sind aus den Fugen geraten und schräg. Ob Kirche, Singstube oder Vortragssaal: Wofür der Saal einst vor der Krise genutzt wurde bleibt offen und vage.
Nach dem Eingangschoral zu Beginn des ersten Akts zieht der mächtig-strahlend aussingende Chor (Einstudierung José Luis Basso) in trister, aschfahler Kleidung (vom Regisseur kostümiert) exodushaft aus. Noch mochte man vermuten, eine als Pogrom inszenierte Prügelfuge am Ende des zweiten Aktes könnte hier schon Vorgriff auf die Deportation oder Flucht jüdischer Flüchtlinge aus dem Hitler-Deutschland gezeigt worden sein. Doch weit gefehlt: Pelly meidet bewusst und durchgängig Anspielungen und Verweise auf die deutsche Geschichte. So sind die Häuser als Bühnenkulisse Pappkartons, die nach der Prügelszene auf dem Haufen der Geschichte in der Bühnenecke landen.
Und darin liegt die Stärke des Regiegedankens, Ausgrenzung, Diskriminierung und Verfolgung als universellen Bestandteil zu betrachten, der überall auftreten kann. Sicher kann das aber nur glaubwürdig außerhalb Deutschlands gelingen. Eine sich von der Rezeptionsgeschichte des Werks (sogar vom Schluss des Stücks selbst) lösende Inszenierung kann eben in Bayreuth nicht überzeugen, sondern würde dort nur wie ein Persilschein wirken.
So aber stemmte man in Madrid eine Produktion, die lediglich mit dem David (Sebastian Kohlhepp mit wunderbarer Textverständlichkeit und glasklarer Intonation) keine weiteren deutschen Sänger auf dem Besetzungszettel auswies. Nur die extra aus Bayreuth ausgeliehene Beckmesser-Harfe zeugte von der schweren deutschen Tradition. Vor dem Hintergrund, dass es gerade für das große, deutsche Fach die Sänger*innen mit deutschen Pass sind, die von den bedeutenden Häusern weltweit engagiert werden, eine kleine Besonderheit mit Fingerzeig: Locker und leicht geht eben nicht in Deutschland – dafür müssen die „Meistersinger“ raus in die Welt!
Das wirkt erfrischend, leicht und befreiend ohne Beigeschmack. Zudem Pablo Heras-Casado am Pult des Titularochesters des Teatro Real eine so flüssig und variantenreiche musikalische Ausdeutung gelang, die ganz bewusst die großen Ausbrüche und Triumphklänge zu meiden suchte. Mit welcher Virilität in schlanker Führung und manierierter Filigranität schon die Ouvertüre in der samtig-weich abgestuften Akustik des Teatro Real erklang, ließ aufhorchen. Immer wieder mäßigende Eingriffe wie beim „Wach auf, es nahet gen den Tag“ zeugten von einem gemeinsam erarbeiteten Gesamtansatz, der die eben auch immanente Kunst- und Kulturkritik des Erneuers Wagner betonen sollte. Ein Genuss!
Denn die in sinnlosen Riten erstarrte Meistersinger-Gilde aufzubrechen, wäre auch Wagners Wunsch selbst gewesen. So ist Walther von Stolzings Preislied (von Tomislav Mužek, zwar in Deutschland geboren, aber in Kroatien aufgewachsen, flutend-lyrisch und schön nuanciert gegeben) vom Komponisten selbst als innovativ-romantisches Lied mit Impuls der Erneuerung gesehen worden. Die Regie folgt dieser Lesart durch die Licht von Urs Schönebaum, der zu Stolzings Schmelzarie immer wieder kurz den Saal in warmes Rötlich taucht.
Eigentlich – August Everding hatte dies einst betont – ist aber Beckmessers Musik (mit dem heutigen Blick) die wirklich Innovativere. Regie wie Komponist unterliegen diesbezüglich einem Irrtum, ist doch die Stolzing-Arie (von Katharina Wagner einst in Bayreuth schön gezeigt) im Kern nichts anderes als konventionelle Volksmusik à la Florian Silbereisen und Helene Fischer.
Ein halbgares Ende die zweite Schwachstelle der Neuproduktion: Zwar erlischt mit einem Mal das wonnig-rote Licht, als Hans Sachs zur Schlussansprache ansetzt und die Meistersinger gucken kurz erschrocken. Abschließend ziehen David und Magdalene (Anna Lapkovskaja guttural angehaucht mit warmen Timbre) verschämt den Schlussvorhang zu. Doch Volk und Verbände vor romantischer Alpenlandschaft hatte sich zuvor dann doch sehr angetan vom nationalistischen Unsinn gezeigt, den Wagner Sachs in den Mund gelegt hat. Eine deutlichere Haltung in der einen wie der anderen Richtung zu präsentieren, die sich aus dem roten Faden der Inszenierung klar ergibt, wäre da handwerklich wie inhaltlich fruchtbarer gewesen. So aber bleibt ein Beigeschmack der Belanglosigkeit haften, der aus der Beliebigkeit der Möglichkeiten erwächst.
Des Weiteren ein Besetzungszettel von hoher Qualität: Der Hans Sachs von Gerald Finley gestaltet bis zum Ende ohne Abstriche präzise, packend und deutlich. Sein Bariton ist bis zuletzt geschmeidig und lyrisch, aber raumfüllend, was dem Regiegedanken mit seiner musikalischen Ausdeutung gut entspricht. Den Wahnmonolog wie auch die Fliederarie geraten musikalisch sehr überzeugend, wenngleich – wie in den großen Chor- und Ensembleszenen auch – die Personenführung allzu statisch und bisweilen beliebigen Operngesten verhaftet bleibt.
Dem gegenüber legt Leigh Melrose unbändige Schauspielfreude als schmierig-schleimiger Beckmesser an den Tag, der mit ebenso musikalischer Betonung, dafür aber sehr präzise und genau aussingend, den meisten Applaus am Premierentag erhält. Die Eva von Nicole Chevalier vermag mit jugendlicher Intonation und lyrischer Differenz zu punkten, was im dritten Akt wesentlichen Anteil an dem harmonischen Gesamtbild des eindrücklich ausgesungenen Quintetts hat.
In den weiteren Rollen überzeugen Jongmin Park als greiser Pogner mit sicher ausgesungenem Bass und José Antonio López als gestreng-sicher aussingender Fritz Kothner. Am Ende viel Beifall für alle Beteiligten.
Weitere Vorstellungen am 28. April und 2., 6., 10., 14., 18., 21., 25. Mai 2024.