Das Staatstheater Braunschweig stellt Hector Berlioz‘ letzte Oper als Reenactment-Komödie auf die Beine, die auf der musikalischen Seite völlig überzeugend gerät.
Mit den Weltabschiedswerken ist es ja so eine Sache: Wie nebelumwabert mit der Aura des irgendwie sphärisch Jenseitigen als Stücke der letzten Dinge (manchmal unvollendet und damit erratisch-geheimnisvoll) wecken diese Stücke eine unbestimmte, unbehagliche Neugier auf nötige Erklärungen an der Schwelle des Übergangs und darüber hinaus. Vor allem aber: die Ahnung der Verfasser selbst, ein letztes Werk zu schreiben, verleiht dem Ganzen noch einen besonders schön-schaurigen, mystischen Schleier.
In Hector Berlioz‘ „Béatrice et Bénédict“ liegt die Sache etwas anders: Nach Vorlage Shakespeares „Viel Lärm um nichts“, 1862 in Baden-Baden uraufgeführt, ist diese „Opéra-comique“ zwar im Bewusstsein des Abschieds entstanden. Gesundheitlich angeschlagen zieht sich Berlioz in dieser Zeit schon als Musikkritiker und Dirigent Schritt für Schritt aus der Öffentlichkeit zurück. „Les Troyens“ sind schon fertig, aber dennoch werden die letzten drei Aktes seines erst von der Nachwelt so bezeichneten Musiktheater-Hauptwerkes ein Jahr später, 1863, erstmals aufgeführt.
Berlioz selbst zeichnet für das Libretto verantwortlich, und von der Shakespeare-Vorlage bleibt so am Ende nur ein Gerippe. Während „Les Troyens“ später große Rezeptionsgeschichte schreibt, bleibt für „Béatrice et Bénédict“ nur ein Nischendasein.
Was verwundert, drängen sich doch große Parallelen zu einem anderen Abschiedswerk auf, das ebenso mit zufriedenem Blick des Alters das Leben feiert. Verdis „Falstaff“ ist ähnlich positive Rückschau auf Shakespearscher Grundlage. Und der Musiktheater-Fachmann und –kritiker Berlioz war sich seiner Botschaft bewusst, wenn er über sein eigenes Letztwerk an Freundin Caroline von Sayn-Wittgenstein schrieb: „No more of that. Othello’s occupation’s gone.“ Und in seinen Memoiren nimmt Berlioz ganz am Ende endgültig Abschied vom Künstlerleben, wenn er selbiges Zitat nochmals auf sein Werk bezieht, wie Ulrich Schreiber schön herausgestellt hat: „Fahr wohl! Othellos Tagwerk ist getan!“
Es sind dieselben kleinen, feinen (Selbst-)Bezüge, die Berlioz heute vielleicht den Namen eines Musik-Nerds verleihen würden, und von denen es in „Béatrice et Bénédict“ nur so wimmelt. Mit Blick auf die musikalische Qualität dankenswerter Weise kann sich nun die Neuproduktion in Regie von Franziska Severin am Staatstheater Braunschweig schön in die Raritäten-Reihe der Wiederausgrabungen einreihen, die am Hause schon seit Jahren immer wieder fortgeschrieben wird.
So erweitert Berlioz die Vorlage um den Kapellmeister Somarone, der als aus der Zeit gefallener Musiker alter Schule zwar durchaus klamaukhaft dargestellt wird, aber von der Musik mit einem Zitat aus Berlioz‘ erstem Stück versehen wird. Maximilian Krummen spielt und singt diese Rolle mit immenser Schauspielfreude und schön tiefgründig ausgestalteter Ausdruckskraft seines Basses.
Und wenn Hero (die sich bedingungslos auf die Ehe mit Claudio freuende Tochter des Gouverneurs Leonato) ihre himmlisch-seelige Arie anstimmt, dann karikiert Berlioz mit übertriebener Koloratur. Victoria Leshkevich singt das zunächst passend in warmig-wohligem Timbre, zur Endlos-Koloratur dann in schrille Intonation wechselnd. Denn Berlioz‘ Ansinnen ist nämlich parodistischer Natur, den heiligen Stand der Ehe auseinander zu nehmen. Und so lässt die Regie Hero zum kieksend ausgesungenen Arienfinale auch noch die Kinder unter dem Tisch hervorholen und jagen.
Ein weiterer Selbstbezug im Duett Hero-Ursule mit „Les Troyens“-Zitat: Anna Alàs I Jové wartet in der kleinen Nebenrolle der Ursule mit einem wunderbar strömenden, besonders textverständlichen gegebenem Mezzo auf, der selbst durch die Kürze der Rolle nachdrücklichen Eindruck hinterließ.
„Reenactment“ ist der inszenatorische Kniff, mit dem sich so mancher Opernregisseur auch künftig aus der Patsche helfen könnte – und das im wirklich positiven Sinne: So setzt das Setting im Bühnenbild und Kostümen von Benita Roth gleich zu Beginn den Maßstab. Schließlich kehrt das Ensemble gleich zu Beginn des Stücks aus dem Krieg zurück, der in der Folge keine Rolle mehr spielt. Denn von solchen Kriegen und Schlachten am Rande wimmelt es eben auch nur so in der Operngeschichte. Und die von diesem Kolorit entkleideten und damit wieder auf den Kern zurückgeführten Stücke könnten es den Regisseuren danken, sie von starrer Kruste befreit zu haben.
„Reenactment“ ist dabei die Bezeichnung für die Nachstellung von Schlachten in traditionellen Kostümen und Gewändern. Am Völkerschlachtdenkmal, aber auch die Taten der Deutschen im Belgien des Ersten Weltkriegs werden oft von Traditionsverbänden an Gedenk- und Jahrestagen nachgestellt. Die Reenactment-Schlacht in „Béatrice et Bénédict“ ist gerade beendet, und die Schauspiel-Kriegs-Protagonisten haben Feierabend. Vor dem zentralen Eingangsgebäude mit „Coeurs flambés“-Lettern als Drehscheibe stellt den Rahmen für das mehr oder weniger komödien-klamaukhafte Spiel mit ausgefeilt-guter Personenführung.
Über Geschmack lässt sich bekanntlich nicht streiten: Und wo es lustig wird, darüber muss der Zuschauende sich dann doch selbst ein Bild machen. Der Intention Berlioz‘ wird die changierende Doppelbödigkeit aber in beiden Ansichten gerecht. Mit herrlich viel Liebe zum Detail wird geschauspielert und agiert, was das Zeug hält.
Unzweifelhaft überzeugend die musikalische Seite mit sicherer Führung des Staatsorchester Braunschweig durch Christine Strubel am Pult: Die vielseitigen und abwechslungsreichen Stile und Varianten der Partitur werden sorgsam und meist deutlich herausgearbeitet, von hochromantischem Flirren zur gecken Parodie gerät die Musik als raunender Erzähler präzise und viril. Der Chor unter Einstudierung von Georg Menskes und Johanna Motter singt und spielt mit packender Intensität.
Von den beiden Hauptprotagonisten gibt Milda Tubelytė eine charakterstarke und vielseitig ausdifferenzierende Béatrice von hoher Intensität, die zwischen neckendem Tonfall und expressivem Ausbruch in ihrer Traumarie „Dieu! Que viens-je d’entendre?“ mühelos und präzise wechselnd, nuanciert und besonders in den tieferen Lagen überzeugt. Zudem sie durch ihre schauspielerische Leistung so echt und nachvollziehbar agiert, lässt diese Leistung insgesamt nichts zu wünschen übrig.
Der Bénédict von Matthew Peña bringt einen in den Höhen sehr hell gelagerten Tenor mit ein, der mit hoher Schauspielfreude seiner Partnerin gut zur Seite steht. In den weiteren Rollen überzeugen Jisang Ryu als gut fundierter Don Pedro, Zachariah N. Kariithi als strahlender Claudio und Randy Diamond als handfester Leonato.
Weitere Vorstellungen am 8. und 17. Mai.