Hochzeitsnacht im Jugendzimmer: Mariame Clément zeigt Charles Gounods „Roméo et Juliette“ an der Staatsoper Berlin als kaleidoskopartiges Jugend-Sozialdrama mit Generationenkonflikt. Das geht nicht immer auf.
Arturo Toscanini sagte einmal: „Wären Tristan und Isolde italienischer Herkunft, hätten sie am Ende des zweiten Aktes sieben Kinder. Aber sie sind Deutsche, also diskutieren sie noch.“ An diese Aussage fühlt man sich nach der ersten Aufführung von „Roméo et Juliette“ an der Lindenoper nach über 100 Jahren erinnert, stellt sich doch auch das Verhältnis des anderen großen Liebespaars, „Romeo und Julia“, in der Behandlung seines Urhebers Shakespeare zur hochromantischen Auslegung durch den französischen Romantiker ähnlich dar. Denn was alles hat Charles Gounod mit seinen Librettisten Jules Barbier und Michel Carré in das tragische Liebesdrama um die unmögliche Liebe zweier Jugendlicher in der harten Realität verfeindeter Clans gesteckt: Romantische Chorpassagen und pathetische Tableaus, oratorienhaft ausgedehnt und damit um religiösen Aspekte erweitert, ist das Sterben der Protagonisten am Ende noch mehr Scheitern und Ausweglosigkeit durch die Unmöglichkeit im Hier und Jetzt als bei Shakespeare. Den kompositorischen Gesamteindruck der bildhaften Tableaus über fünf Akte entsprechend zeigen die Videos von Sébastien Dupouey kaleidoskopartige Formen, Symbole und Schnitte, die wohl die Doppelbödigkeit der handelnden Charaktere verdeutlichen sollen, aber zu oft unerklärt plötzlich erscheinen und wieder verschwinden.
Die Pariserin Mariame Clément legt mit ihrer ersten Arbeit für die Staatsoper Unter den Linden den Fokus auf die Jugendlichkeit des Liebespaares. Juliette ist bei Clément blauhaarig gefärbtes Girlie im pastellfarbenen Einerlei-Elternhaus (Bühne und Kostüme von Julia Hansen). Von glutvoll-feuriger Liebe singt hier nur noch die Geburtstagsgesellschaft in Vergangenheitsform. Die Chöre unter Einstudierung von Dani Juris singen schön kompakt und versiert aus, und das Licht von Ulrik Gad blitzt auf und lässt die erstarrte und blasse Gesellschaft kurz im lebendigen Licht der Wunschwelt erstrahlen.
Wenn nach der Pause Juliette endlich im Jugendzimmer vor Titanic-Film-, Pferde- und Roméo-Postern endlich ihre Hochzeitsnacht herbeisehnt, dann ist dies erträumte Flucht aus dem Hier und Jetzt. Das Jugendbett fährt aus dem Zimmer, und vor rabenschwarzer Nacht mit Sternen und projiziertem Schmetterling entsteht ein starkes Bild. Das leider als Solitär für sich stehen bleibt und nicht weiter verfolgt wird wie auch andere Regie-Ideen. So verliert sich die Inszenierung zu oft in einem zu viel der Nebensächlichkeiten.
Der Geistliche Frère Laurent ist ergrauter Alt-68er-Lehrer mit Zopf (Nicolas Testé mit klarer Intonation und präziser Stimmführung) und präsentiert als Pädagoge den Trank als einzigen Ausweg vor der befohlenen Hochzeit Juliettes mit Pâris (David Oštrek mit ausdruckstarkem Bass-Bariton): der Trank als Sinnbild des Scheiterns der 68er-Ideale auf ganzer Linie.
Elsa Dreisig gibt eine passionierte Juliette voller Elan und viraler Ausdruckskraft, die besonders in den Höhen durch schön spannungsvoller, aber nie forcierter Intensität zu punkten versteht. Ihr klangschön geführter, eher lyrisch orientierter Sopran glänzt zudem durch Nuanciertheit und Präzision, was ihr am Premierenabend völlig zu Recht viel Beifall beschert.
Amitai Pati ist ihr als Roméo mit sicherem, eng geführten Tenor ein nicht ganz gewachsener Gesangspartner, der zwar in den Höhen ein wenig angestrengt, so doch überzeugend und mit einiger Ausdruckstiefe überzeugt. Den jugendlichen Lover nimmt man ihm sofort ab. Roméo und Juliette erscheinen damit als authentisches, jugendliches Liebespaar, das aus den Zwängen des sterilen Elternhauses auszubrechen versucht. In welcher Weise dies geschehen könnte, bleibt leider offen, was zum einen dem Sujet, zum anderen dem inkonsistenten Regiefaden geschuldet bleibt.
In weiteren Rollen stechen Marina Prudenskaja als sorgende Gertrude mit warm-strömenden Mezzo und Johan Krogius als klangschön intonierender Tybalt heraus. Am Pult der Staatskapelle debütiert Stefano Montanari, dem es in einigen Passagen nur schwer gelingt, Ensemble und Graben miteinander in Einklang zu bringen. Neben Abstimmungsschwierigkeiten gelingt erst im weiteren Verlauf eine stimmungs- und spannungsvolle Ausdeutung des an vielen Stellen durchaus auch differenzierten und feinfühligen Werks. Am Ende einige Buhs für Dirigat und Regie, aber großen Applaus für die anderen Beteiligten.