„Fin de partie“ in Berlin

Kurz vor dem Tod zieht das Leben noch einmal an einem Sterbenden vorbei. Dies ist zumindest eine gängige Annahme. In der Oper „Fin de partie“ (Endspiel), ursprünglich geschrieben von Samuel Beckett, mit der Musik und neu interpretiert von György Kurtág, endet das Leben des Hauptprotagonisten Hamm, der ansonsten auf einen Rollstuhl angewiesen ist, auf einem Riesenrad.

In der Regie von Johannes Erath präsentiert die Lindenoper nun eine Neuproduktion des 2018 uraufgeführten Werks.

Es ist nur einer von mehreren Momenten, in denen das Bühnenbild von Kaspar Glarner von großer Symbolik ist. Das Riesenrad steht zum einen für die Erinnerung Hamms an seine Kindheit und zum anderen für sein gesamtes Leben, das sich im Kreis drehte und nie von einem positiven Fortschritt gekennzeichnet war. Das „Endspiel“, das Hamm hier auf dem Riesenrad bestreiten muss, ist von langem Leid geprägt und scheint kein Ende zu finden. Das Riesenrad ist zwar bunt, es ist jedoch zu Fall gekommen und liegt umgestürzt auf der Bühne, außerdem wirkt es aufgrund der Bühnenbeleuchtung (Licht Olaf Freese) düster.

Laurent Naouri (Hamm), Photo: Monika Rittershaus
Laurent Naouri (Hamm), Photo: Monika Rittershaus

Ebenso düster ist zuweilen die Musik unter der Leitung von Alexander Soddy. Gleichzeitig ist die Musik experimentell, was sich direkt im Prolog zeigt, der ebenso wie der Epilog, mit einem in englischer Sprache gesungenen Gedicht, die Aufführung einrahmt. Im Orchester kommen auch für eine Oper ungewöhnliche Instrumente wie das osteuropäische Akkordeon Bajan und ein Cimbalom zum Einsatz.

Der Gesang von Hamm (Laurent Naouri), seinem Diener Clov (Bo Skovhus) und seinen Eltern Nell (Dalia Schaechter) und Nagg (Stephan Rügamer) kommt nicht mit voller Inbrunst daher, wie man es von klassischen Opern gewohnt ist, sondern wechselt zwischen leidenden Stimmen und hinterhältiger Ironie hin und her.

Trotz der düsteren Atmosphäre ist in den nicht voll besetzten Rängen der Staatsoper Unter den Linden immer wieder amüsiertes Gekicher zu hören. Becketts Protagonisten sind Clowns, aber in tragischen Rollen, denen nahezu alles misslingt. „Nichts ist komischer als das Unglück“, sagt Nell zu Nagg. Auch das Ehepaar kann nicht mehr laufen. Sie haben ihre Beine bei einem Unfall verloren und müssen bei ihrem Sohn in Mülleimern leben, die teilweise bereits an Urnen erinnern. Schmutzige Mülleimer im Kontrast zu weißen Kostümen. Ein klassischer Wecker steht dort und zeigt, wie die Zeit zerrinnt.

Dalia Schaechter (Nell), Stephan Rügamer (Nagg), Photo: Monika Rittershaus
Dalia Schaechter (Nell), Stephan Rügamer (Nagg), Photo: Monika Rittershaus

Ihr trister Alltag ist fade, ihr Gesang klagend bis provokant, albern und zynisch. Der eigene Sohn eine lächerliche Plage mit seinen absonderlichen Gedanken. Das geschriebene Theaterstück in Gesang verfasst, in französischer Sprache – das Publikum muss aufmerksam sein.

Hier hört niemand dem anderen zu, der vergebliche Versuch, den einstigen Witz vom Engländer, der zum Schneider ging, erneut zu erzählen, und welcher damals als Nagg ihn Nell erzählte, auf der Verlobungsfahrt am Comer-See, Verbindung geschaffen hatte, wird zu einer trennenden bleiernen Farce.  

Es besteht eine wechselseitige Abneigung zwischen Eltern und Sohn. Als die Mutter stirbt, lässt Hamm sie von seinem Diener in einem schwarzen Müllsack entsorgen. Seinen Vater zwingt er dazu, einer Geschichte zu lauschen, die er ihm erzählt, und stellt dafür eine Praline in Aussicht. Der Vater wird von Hamm getäuscht. Die Praline existiert nicht. Im Hintergrund auf der Bühne laufen Filme ab, die an eine glücklichere, aber untergegangene Welt denken lassen, als die Eltern noch jünger und voller Lebenskraft waren. Ihren Sohn haben sie, wie der Vater gesteht, nie mit Liebe und Fürsorge bedacht. Hamm nennt ihn seinen „Erzeuger“.

Laurent Naouri (Hamm), Bo Skovhus (Clov), Photo: Monika Rittershaus
Laurent Naouri (Hamm), Bo Skovhus (Clov), Photo: Monika Rittershaus

Auch Hamm und Clov hassen sich. Aber die gegenseitige Abhängigkeit hält sie zusammen. Alles wiederholt sich stetig, das nahezu dreidimensionale Bühnenbild zeigt gleichzeitig das Hier und Jetzt im Brennglas und parallel dazu die stetigen Wiederholungen des Tagesablaufs, wecken, fertig machen für den Tag, fertig machen für die Nacht des an den Rollstuhl gefesselten Hamms durch den Diener Clov. Eindrücklich dargestellt durch ablaufende Negativ-Filme im Zeitraffer. Der Herr braucht seinen Diener, weil er im Rollstuhl sitzt, und der Diener braucht eine Anstellung. Der Rollstuhl ist halb Fahrrad, verweist so auf den früheren Tandem-Unfall, aber nicht funktional als solches – Mobilität und Freiheit sind unterbunden. Erst als Hamm feststellt, dass seine Schmerzmittel aufgebraucht sind, weiß er, dass es nach dem Tod seiner Eltern auch für ihn vorbeigeht. „Ich brauche Dich nicht mehr“, sagt er zu Clov.

Alia Schaechter (Nell), Stephan Rügamer (Nagg), Laurent Naouri (Hamm), Photo: Monika Rittershaus
Dalia Schaechter (Nell), Stephan Rügamer (Nagg), Laurent Naouri (Hamm), Photo: Monika Rittershaus

Hamm hat einen Hund, doch dieser ist bereits tot oder war niemals lebendig oder wurde im Nachgang ausgestopft – man weiß es nicht, er begleitet ihn treu und Clov weiß um dessen Wichtigkeit für seinen Herrn, er legt ihm diesen liebevoll in den Arm, eine einzige Stelle der Fürsorglichkeit, die einen erschaudern lässt – als seine Körperhülle am Boden liegt und er bereits Richtung Riesenrad aufgebrochen war um als glitzernder Clown zu erscheinen.

Nach einem Akt ist alles vorbei. György Kurtág hat die Hälfte des Stückes gekürzt. Die Ausweglosigkeit entfaltet aber auch so seine Wirkung durch teils lähmende Längen. In der ursprünglichen Version von Samuel Beckett ist die Zivilisation nach einer Katastrophe im Prozess des Zerfalls. Dies spiegelt sich in der dysfunktionalen Familie, die auf ihren Tod wartet. Bei Kurtág lässt sich diese Lage der Welt erahnen. Hilfe von außen gibt es nicht für die vier Protagonisten und in seinem Endspiel auf dem Riesenrad bleibt Hamm in der Einsamkeit zurück.

Bo Skovhus (Clov), Laurent Naouri (Hamm), Photo: Monika Rittershaus
Bo Skovhus (Clov), Laurent Naouri (Hamm), Photo: Monika Rittershaus

Es gibt Bravo-Rufe und verdienten Applaus, das aufgeschlossene Publikum umfasst viele Generationen.

György Kurtág ist ein überzeugendes Opernexperiment gelungen, das unbedingt in Zukunft noch sehr viele Zuschauer und Hörer verdient hat.