Der Prolog bringt viel Getöse auf die Bühne – einstürzende Mauern, dann Gemetzel und Blut. Längst Vergangenes, die Gegenwart und drohende Zukunftsszenarien werden in dieser ersten gemeinsamen Oper „Cassandra“ des belgischen Komponisten Bernard Foccroulle (Musik) und des Kanadiers Matthew Jocely (Libretto) miteinander verknüpft.
Der Mythos Kassandra ist das Leitbild. Die Prophezeiungen von Homers Cassandra (Katarina Bradic), die den Untergang des antiken Troja im Kampf mit den Griechen vorhersagt, wechseln sich ab mit den Warnungen und Vorhersagungen der Klimaforscherin Sandra (Jessica Niles) im 21. Jahrhundert. Diese beiden Frauen teilen dasselbe Schicksal: Ihre düsteren Prognosen werden von den Menschen ignoriert, die die Macht hätten, die Katastrophen noch abzuwenden. Beide Handlungsstränge – der Fall Trojas und die Debatten über Ursachen und Folgen des gegenwärtigen Klimawandels – verschmelzen in den 13 Szenen immer wieder miteinander.
Die Videoprojektionen der Inszenierung (Marie-Eve Signeyrole) ziehen die Zuschauenden in ihren Bann und sind zielgenau auf die Musik abgestimmt. Sie ergänzen das Bühnenbild optimal. Im Zentrum des Bühnenbilds steht durchweg ein mobiler Kubus, der die Handlung umrahmt und stets wandelbar, teilbar ist – als Eisberg, Bücherwand, Mauer, Regal oder Bienenwaben fungiert. Beeindruckende Details und ständige Fokuswechsel nehmen die Zuschauenden szenisch mit. Zumal eine Live-Kamera ihren Einsatz findet und so das Dargestellte in Ausschnitten großformatig projiziert.

Die Einbeziehung des Publikums wird inszeniert – stetig begleiten verächtliches Gelächter, Beifall oder sogar Wut und Kritik die Aufführung aus den Rängen. Verknüpft ist dies mit der Rolle der Sandra, die als Stand-Up-Comedian versucht, sich mittels Humor Gehör zu verschaffen, mit dem sie ihre Fakten aufbereitet. Der Schrei Cassandras „Ototoi Popoi da“, für den es keine Übersetzung gibt und den Katarina Bradic eindrucksvoll und voller Entsetzen hervorbringt, wenn sie in die Zukunft sieht, ist da noch längst nicht verhallt.

Die Elternpaare der beiden Frauen sind jeweils von denselben Sänger:innen besetzt. Sie schlüpfen in unterschiedliche Rollen: In der Antike blicken sie als Eltern von Cassandra, Hecuba und Priam, traurig auf ihr Schicksal und den Tod zurück. Gehässig und spöttisch kommt hingegen ihr Gesang in der Gegenwart daher. Victoria (Susan Bickley) und Alexander (Gidon Saks) sind reiche Menschen, die von der Rohstoffausbeutung nach dem Abschmelzen der Pole profitieren wollen. Sandra wird von ihren Eltern nicht ernstgenommen. „Sandylein“ singt ihr Vater immer wieder verniedlichend.
Apollo (Joshua Hopkins) speist von trojanischen Leichen und bedrängt Cassandra sexuell. Sandra hat hingegen einen Mann, der ihr nahesteht. Die Beziehung zwischen dem Klimaaktivisten Blake (Valdemar Villadsen) und Sandra (Jessica Niles) ist aber problembelastet. Beide forschen. Blake möchte ein Kind, Sandra nicht. Ihr Gesang ist entschlossen und überzeugend. Sie ist selbstbestimmt und fürchtet, dass ihr Kind nur das Leid der untergehenden Welt erleben würde.

Blakes Charakter ist dargestellt durch das Saxophon – er windet sich, bleibt zunächst im Unklaren, kommt dann ins Handeln und bricht zu einer Antarktisreise per Schiff auf. Dort verunglückt er. Im selben Moment setzt die Geburt des Kindes von Sandras Schwester Naomi ein – die jüngere Schwester von Sandra ist ihr Gegenpart. Sie entscheidet sich für das Hier und Jetzt.
Der Chor der Geister verbindet die Zeiten und trägt die Zuschauenden mit durch das Stück. Mal im Hintergrund, mal vordergründig. Auch auf den Rängen taucht er auf und stellt so wieder die Verbindung zum Publikum her. Die Bienen sind das Symbol für die zerstörte Artenvielfalt. Sie werden durch Videoprojektionen erst als großer Schwarm dargestellt, hörbar durch die Violinen. Später sind die Bienen nur noch eine kleine Gruppe. Sie sind vom Aussterben bedroht.

Das Spiel des Orchesters unter der Leitung von Anja Bihlmaier korrespondiert hervorragend mit den Videoprojektionen – die Naturgewalten und -klänge werden abgebildet – das Eis schmilzt. Besonders schön kommt das Marimbaphon in den Szenen der Gegenwart zum Einsatz.
Sandra und Cassandra finden am Ende zusammen. Sie singen gemeinsam „Ototoi Popoi da“ – beide Einzelkämpferinnen finden ihr Pendant aus der jeweils anderen Zeit. Anders als Cassandra gibt Sandra nicht auf – niemals lasse sie sich ihre Stimme nehmen. Das Publikum in der vollbesetzten Staatsoper Unter den Linden applaudiert zurecht begeistert – das ansprechende Begleitheft und die Einführungsbesprechung sind ebenfalls sehr gelungen.