Ein ganz neues Märchen: Die künftigen Bayreuther Rienzi-Regisseurinnen Alexandra Szemerédy und Magdolna Parditka erzählen in Hamburg Glinkas „Ruslan und Ljudmila“ bravourös gegen den Strich.
Eine ukrainische Oper auf dem Spielplan, das wäre mal richtig was Besonderes gewesen. Leider ist noch keinem Opernhaus Europas so eine schöne Geste der Solidarität mit den vielen ukrainischen Geflüchteten hier und als Zeichen der gemeinsamen großen europäischen Musiktheatertradition eingefallen. Stattdessen überall russische Werke, die natürlich auch nichts für Putins Angriffskrieg können. Aber muss es dann ausgerechnet eine ziemlich reaktionäre russische Nationaloper wie Michail Glinkas „Ruslan und Ljudmila“ sein, die noch dazu in einem zum Zarenreich gehörenden Kiew spielt?
Die Hamburger Staatsoper hat sich natürlich Gedanken gemacht, als sie diese Position in den Spielplan hievte. Und die beiden ungarischen Regisseurinnen und Ausstatterinnen Alexandra Szemerédy und Magdolna Parditka, die im Sommer Wagners „Rienzi“ in Bayreuth inszenieren werden, haben Glinkas Schwarzweißmärchen auch tüchtig gegen den Strich gebürstet. Sie machen sozusagen die richtige Inszenierung zum falschen Stück, aber anders als bei den wirklich revolutionär gesinnten Komponisten wie Händel, Mozart oder Wagner muss man sich hier fragen, ob sie den Komponisten da auf ihrer Seite haben.
Wird Puschkins Vorlage durch seine ironischen Spitzen noch als Parodie auf ein Heldenepos gelesen, soll Glinkas Libretto staatstragend ausgerichtet worden sein. Die am Anfang stehende Hochzeit wird durch einige Verwirrungen verzögert, dann aber ganz im Sinne der autoritären Dreiheit aus Staat, Kirche und Militär vollzogen. Dem Zaren reichte das offenbar alles noch nicht, er verließ die Uraufführung 1842 noch vor Schluss.
Dass Bellinis Freund Glinka stilistisch phasenweise noch ziemlich nah am westlichen Belcanto-Ideal bleibt, hat damals sicher weniger gestört. Die unbeschwert aufsprudelnde Ouvertüre ist bis heute ein beliebtes Konzertstück. Die Koloraturen der Ljudmila wirken unnötig virtuos wie aus einem Königinnendrama Donizettis. Und dann sind da noch folkloristische Anklänge an die arabischen Regionen des weiten Zarenreichs, die eher nicht pluralistisch denn als Kolonialwaren aufgefasst wurden.
Aber das kann man heute ja anders sehen. Szemerédy und Parditka klopfen die Geschichte geradezu vorbildlich auf ihre Bruchstellen ab. Die eben bevorstehende Hochzeit in Weiß wird zu einem Freeze, das die Hauptfiguren in völlig andere Lebenssituationen katapultiert, wo sie ihren unausgelebten Träumen und Gefühlen begegnen. Die Regisseurinnen führen sie dazu spektakulär in das unterweltliche Labyrinth der Metro, wo etwa Ruslan in einer langen Selbsterkenntnis-Arie, die eher ein Wotan-Monolog ist, an den Gleisen steht, bis er springt und sich dem einfahrenden Zug entgegenstellt.

Aber es gibt ein anderes Ufer in diesem Schacht, eine Reihe flippiger Queer-Bars, in denen die Liebenden der Nacht in allen LGTB-Varianten ihren Emotionen und Lüsten nachgeben. Ruslan entdeckt sie noch abwartend, sein Freund und offizieller Kontrahent um Ljudmilas Hand Ratmir, von Glinka als Alt besetzt, in Hamburg ein Countertenor, gibt sich hier gern seinen weiblichen Gefühlen hin. In der Erde, im Mutterreich der als Hexe verunglimpften Naina, darf sich alles natürlich entfalten. Die Regisseurinnen verknüpfen hier wie in der russischen Oppositionsbewegung feministische und queere Positionen. Und die werden auch hier von den Uniformierten der Staatsmacht niedergeknüppelt. (Leider wie im Märchen: Das Abweichende hat nur als Böses Raum.)

Naina geistert im grau gewordenen Hochzeitskleid wie ein Alter Ego Ljudmilas durch die Inszenierung. Einst vom „guten“ Zauberer Finn zur Ehe gezwungen, dann verlassen, verkörpert sie nun die Mahnung, sein Leben selbstbestimmt zu führen. Ljudmila etwa muss die erdrückende Liebe des Vaters durchbrechen, schmeißt endlich die Schlittschuhe hin, die ihm sein Ehrgeiz aufgezwungen hat, bricht irgendwann zwischen den Shops und Quais der Metro-Unterwelt zusammen. Ihre ergreifende Szene zur Sologeige begleitet der Violinist als bettelnder Straßenmusikant auf der Bühne.

Freeze aufgehoben: Alle um wichtige Erfahrungen reicher, spielen einen anderen Schluss, als im Libretto vorgesehen, hier nun aber sehr passend zur Partitur, denn zum Jubelfinale kehrt die spritzige Ouvertürenmelodie als Chor wieder. Freilich feiert die junge Generation Hochzeit anders: Ljudmila gibt den Ring an Ruslan zurück, damit er ihn Ratmir reicht, zusammen mit dessen Freundin Gorislawa bilden sie fortan ein fröhliches Quartett, und die queere Community mit der Regenbogenflagge mischt die Party auf. Auch ein Märchen, ein neues und schöneres.
Azim Karimov, exilierter Russe am Pult, wirkt in der Ouvertüre noch etwas zaghaft, kostet besonders die nachdenklichen Passagen wie Ruslans Monolog aus und entwickelt dann schön die farbenreichen Tänze und Chöre. Als Ljudmila glänzt Barno Ismatullaeva, bereits gefeierte Elisabetta in Donizettis „Maria Stuarda“ in Hamburg, mit ihrer füllig weichen, noch in den Koloraturen saftigen Stimme. Ilia Kazakov gestaltet den Ruslan mit warmem, geschmeidigem Bass, und als Ratmir lässt Artem Krutko seinen Countertenor dunkel strömen.

Kristina Stanek zeigt als Naina mit vielfältigem Mezzo Präsenz, ist auch spielerisch stark, wenn sie mit ihrem einstigen Gatten Finn plötzlich wieder kurz vorm Kuss steht. Nicky Spence gibt den Zauberer Finn (zusammengelegt mit dem Spielmann Bajan) als eine Art Hochzeitsordner mit entsprechend autoritärer Tendenz und sattem Tenor. Für Gorislawa bringt Natalia Tanasii einen substanzvollen Sopran mit. Weitere Solisten, Chor und Statistinnen wie Statisten tragen zu der hoffnungsfrohen Verkehrung der alten Nationaloper bei.