In seinem zweiten Jahr bei den Bayreuther Festspielen präsentiert sich Jay Scheibs „Augmented Reality (AR)“-Produktion für einige Zuschauende in musikalischer und inszenatorischer Sicht vertieft und nachgeschärft. Die AR-Animationen wirken über die gesamte Länge nicht immer innovativ und weiterführend.
Schließlich war es seit der Verpflichtung des US-Amerikanischen Regisseurs erklärtes Ziel, den „Parsifal“ durch neueste Technik in neue Sphären zu heben. Durch die hohen Kosten der Brillen jedoch wurde leider schon gleich zu Beginn von Scheibs Engagement die Zahl der Brillen reduziert. Und auch für dieses Jahr hat man keine Erhöhung der Brillen-Plätze erreichen können (wollen?). Das war schon im letzten Jahr eine vergebene Chance, für alle Zuschauenden das innovative Potential, das in dieser Technik steckt, zeigen zu können.
Und jetzt? Gerade mit Blick auf die Innovationsfähigkeit hat Scheib für seine Wiederaufnahme die AR-Animationen überraschender Weise kaum nachgearbeitet. Und das, obwohl doch noch im letzten Jahr erklärter Weise die Möglichkeiten des technischen Fortschritts rasant voranschreiten würden. So wirkt manches Animierte bereits im zweiten Jahr bisweilen etwas überholt.
Gleich zu Beginn zu den feierlichen Sphärenklängen des Vorspiels wird der AR-Zuschauende noch eindrucksvoll in die Welt der umherschwirrenden Sterne in totaler Dunkelheit gezogen. Der im zweiten Akt auf jeden Einzelnen zufliegende Speer wirkt schon erwartbar, während der im dritten Akt die Bühne nach unten erweiternde Raum wie eine felsige Küstenlandschaft, auf der Fuchs und Lämmer umherspringen, in den Bann zieht.
Kalaschnikows, Handgranaten, kaputte Batterien und Personen mit Speer und Wunde im Bauch bebildern schön und nachvollziehbar den Regiegedanken von den Konflikten und Kriegen, die der Ausbeutung der Umwelt und Natur mit ihren seltenen Erden und Kristallen zur Handy- und Batterieproduktion folgen. Denn am Ende lagern die Mensch-Amphibien um einen Teich mit nicht mehr besonders reinem, sondern durch den Abbau der Mineralien verseuchtem Wasser. Das Bühnenbild von Mimi Lien in ungewöhnlichen Farben zwischen pinker Klingsorwelt mit Zaubermädchen aus dem Barbieland und einer Gralswelt in Blaugelb mit Amphibiengewändern (Kostüme Meentje Nielsen) wirkt neu und innovativ, weil (bislang) nicht oft in anderen Produktionen so verwendet.
Die weiteren AR-Elemente wie Blumen, Bücher und Schmetterlinge wirken dabei oft nur als Bebilderung, die der nachgeschärften Szenerie auf der Bühne die Sicht nehmen. Denn hier hat Scheib deutlichere Personenführung und neue Darstellungen gefunden: Als Klingsor den Speer auf Parsifal schleudert, dann wirft sich Kundry dazwischen.
Schließlich zerbirst der Gral als großer blauer Kristall, von Parsifal mit Absicht zu Boden geworfen. Der Mensch muss nun mit der von ihm zerstörten Natur leben. Wie das gehen kann? Parsifal nimmt Kundry am Ende an die Hand und steigt in den verseuchten Tümpel. Folgt nun eine neue Utopie? Ist es endgültige Zerstörung oder Auftakt zu etwas Neuem? Das bleibt offen und lässt ratlos zurück.
Ekaterina Gubanowa verleiht der Kundry eine betörende Charaktertiefe, und man könnte sofort nachvollziehen, dass Parsifal doch verführt werden könnte. Das schafft eine wunderbar knisternde Spannung über den zweiten Akt hinweg. Ihr warm-voller Mezzo tönt formschön, rund und beseelt, und lässt so auch musikalisch die Verzweiflung und Wehmütig- und Müdigkeit ihres Charakters nachfühlen. Lediglich mit Blick auf die Textverständlichkeit könnte sie etwas nachjustieren.
Der Parsifal von Andreas Schager zeigt sich unverwüstlich. Die Amfortas-Klage schreit er sich geradezu von der Seele, wenngleich er mit guter Verständlichkeit aufzuwarten versteht. Ansonsten meistert er die Partie in viel gerade heraus intonierter Selbstverständlichkeit und Geradlinigkeit, die dem „reinen Thor“ gut zu Gesicht steht.
Jordan Shanahan gibt einen Klingsor mit strahlendem Ausdruck und überaus fokussiert, während der Amfortas von Derek Walton an diesem Abend etwas mehr an Klage und Ausdruck in seinen ansonsten ausdrucksvoll ausgesungenen Tenor hätte einbringen können. Der Titurel von Tobias Kehrer überzeugt mit klar strömenden und ausdruckstarker Intonation.
Auch wenn Georg Zeppenfeld an diesem Wiederaufnahmetag nicht ganz an seine besten Leistungen anzuknüpfen versteht, gerät seine Darbietung des Gurnemanz doch von außergewöhnlicher Qualität. Sein Bass ist nuanciert und versteht durch klare Artikulation über die langen Erzählungen hinweg immer Spannung zu erzeugen. Die feierliche Freude des zurückgebrachten Speers strahlt charaktertief in den Saal. Ein Gänsehautmoment, wenngleich Pablo Heras-Casado im Graben im dritten Akt nicht ganz an die bis dahin nuancierte und spannungsvolle Ausdeutung der Partitur herankommt.
Das Orchester hatte den ersten Akt in schnellen Tempi differenziert ausgespielt. Sehr überzeugend gerät Heras-Casado’s Ansatz, straff, zügig und wenig pathetisch zu musizieren. Das wirkt sänger*innenfreundlich und für die Akustik des Festspielhauses nuanciert und ausbalanciert. Auch den zweiten Akt versteht er in klarem Fluss, präzise und strömend-leicht zu formen, während im dritten Akt die Spannungsbögen und Druck etwas abfallen. Insgesamt steht damit eine ebenso nachgeschärfte musikalische Interpretation des „Weltabschiedswerks“ auf der Habenseite dieser Produktion.
Die Chöre unter Einstudierung von Eberhard Friedrich sorgen für eindringliche Plastizität in packend-harmonischer Gesamtheit. Die Blumenmädchen, Gralsritter und Knappen komplettieren einen Besetzungszettel von insgesamt hoher Qualität.
Einige Buhs für das Regieteam und viel Applaus für Dirigat und Sänger*innen.