Schnell zeigt sich an diesem so besonderen Eröffnungstag am 25.07.2021 (nach der letztjährigen Corona-Zwangspause unter komplizierten Hygienebedingungen) der Bayreuther Festspiele, dass nicht nur die Hauptperson noch eine Rechnung offen hat. Denn was Dimitri Tcherniakow als Regiegrundgedanken in der Theorie formuliert hat, zeigt sich doch viel zu wenig praktisch umgesetzt und schnell nachvollziehbar. So hätte besonders die persönliche Rache an Daland noch einigen Erklärungsbedarf und könnte noch weiter auserzählt werden, und auch die bisweilen sehr statisch geführten Chöre könnten noch dramatisch viel mehr vom interessanten Regiegedanken zur Schau stellen.
Denn dieser Holländer ist noch nicht fertig. Schon als Kind musste er mit ansehen, wie seine Mutter irgendwo im Nirgendwo einer Kleinstadt mit einheitlich-öden, kahlen und sterilen Klinkerfassaden und mächtig fest verschlossenen Eingangstüren in rot-blauem Einheits-Schick eine Affäre mit Daland einging, von diesem versetzt wurde und – von der Dorfgesellschaft als fremde Außenseiterin ausgestoßen und gemieden, Selbstmord beging. Eine traumatische Begegnung, und so beginnt die Neuproduktion des „Fliegenden Holländers“ bei den Bayreuther Festspielen am 25.7.2021 mit während der Ouvertüre eingeblendeten Szenen dieser kindlichen Urkatastrophe.
Aber Bayreuth wäre nicht Bayreuth, gäbe es nicht die Möglichkeit, weiterzuentwickeln und zu verändern. Das hat man in der „Werkstatt Bayreuth“ erfreulicherweise schon so oft in anderen Produktion erleben dürfen. Passend, aber eigentlich nicht neu: die innere, psychologische Ausdeutung des Stoffes interessiert den angesagten russischen Regisseur. Traumaverarbeitung versus Rachefeldzug. Oder: Ist Erlösung (von dem Kindheitstrauma) durch Rache möglich?
Der Rest ist Programm. Jahre später kehrt der Holländer in die Stadt zurück, um seine persönliche Erlösungs-Rache zu finden, oder: zu nehmen. Denn er ist wie letztlich viele Wagner-Heroen auch nur ein „Egoshooter“, aus dem der Komponist selbst hervorschimmert. Unbeirrbar und entschlossen macht sich der Holländer auf die Suche und findet in so etwas wie einer warm ausgeleuchteten Hafenkneipe inmitten der feiernd-saufenden Einwohner Daland. Im ansprechenden Bühnenbild des Regisseurs sind es die Häuser mit ihrer aktuell angesagten architektonischen Mode, die heute so viele, beliebige, aber beliebte Neubaugebiete in den Vorstädten bevölkern und damit in ihrer Universalität treffliche Vorlage die Allgemeingültigkeit psychologischer Grundmuster bieten.
Es ist ein hübsches Häuslein-Wechsel-Dich, zwischen dem sich der Stoff des „Fliegenden Holländers“ abspielt, der aber genauso gut hinter jeder anderen Hausfassade hinter verschlossenen Türen für abgründige Familien-Tragödien zu sorgen imstande ist. So verschieben, drehen, wenden sich Häuser, Fassaden, sich bisweilen zu sterilen Häuserfluchten mit kaltem, abweisenden Licht von Straßenlaternen beleuchtet formend. Das ist treffend und schön anzusehen.
Als der Holländer in der belebten Kneipe Bier spendiert, lockern sich die Zungen. Attilio Glaser singt dort als Steuermann am Außentisch eine veritable, alkoholbeseelt-ausgedachte Kneipenstory vom „Südwind“. Durch anzügliches Lachen der anderen Biertrinker unterbrochen, wird so die Arie obzön-doppelmoralisch umgedeutet. Zudem muss man sich die piefige Welt mit Bier in dieser kalten Vorstadtwelt eben schön denken, was mit seinem klangschön flutenden und textverständlichen Tenor, ausdruckstark und breit ausgesungen, sehr nachvollziehbar und erlebbar gerät.
Der Daland von Georg Zeppenfeld agiert zurückhaltender und zivilisierter, was ihn noch unheimlicher macht. Schließlich hat er eine dunkle Vergangenheit, nun überdeckt und verdrängt von Familie mit Frau und Tochter im schicken Neubau-Eigenheim. Zeppenfelds Luxus-Bass von exquisiter Musikalität und Gestaltungsvermögen ist für diese Partie prädestiniert. Variabel und flexibel versteht er es, sich in den Duetten auf seine Gesangspartner einzustellen. In Wagners Welt sind es neben den „Egoshootern“ starke Frauen, die die Sache in die Hand nehmen, wenn es eng wird. Diesbezüglich stellt die Senta des „Fliegenden Holländers“ eigentlich keine Ausnahme dar, auch wenn allzuoft ihr Part in den Produktionen anders ausgedeutet sie zu einem naiv-kindlichen Mädchen degradiert.
Auch bei Tcherniakow hat man lange diesen Eindruck: Asmik Grigorians Debüt bei den Festspielen beginnt als trotziges, rotzfreches Girlie in gelber Seemanns-Regenjacke. Mit überbetonter Gestikulation, provokativ rauchend und entlarvend-beherztem Griff in die braune Handtasche Marys entreißt sie der prüden Vorspinnerin das darin versteckte Holländerbild. Mary träumt wie sie vom Holländer – eine schöne Regieidee der Darstellung dieser gesellschaftlichen Doppelmoral. Aber was für eine Senta ist das an diesem Premierenabend! Als renitentes Teenie-Girl mit vehement-laszivem Auftreten gestaltet sie in sphärisch-zart betontem Klang in samtigem Timbre, vollendet nuanciert und beseelt ihren Einstieg in die Ballade des zweiten Aktes.
Grigorian verfügt über eine derart ausdrucksstarke und hohe Bühnenpräsenz, dass es einem dem unter der an diesem Abend rigoros umgesetzten Coronamaskenpflicht auch während der Vorstellung zusätzlich noch den Atem nimmt. Sicher offenbart die Lettin an diesem Abend durchaus auch Unpässlichkeiten insbesondere im Wechsel in die unteren Lagen mit einem Hang zu leichter Forcierung in den dramatisch-tieferen Passagen – aber durch ihr sängerisches Vermögen, den Gehalt und die Intention von Regie und Partie derart eindrücklich und in jugendlich-schlanker Höhe formschön und beseelt wiederzugeben, stellte ihr Bayreuthdebüt eine (neuerliche) Entdeckung und beeindruckende Bereicherung ihrer Anwesenheit für den grünen Hügel dar. Papa Daland bringt Senta ihren erträumten Sugar-Daddy-Holländer mit nach Hause: Aufgeregt willig saugt sie in Anwesenheit der Eltern am reich gedeckten Dinnertisch auf der verglasten Veranda des Eigenheims alle Töne und Anzüglichkeiten des Holländers auf, und man könnte meinen, sie selbst gäbe sich auf dem Gabentisch der Eltern als nächste Beute für den glatzköpfigen alten Mann hin.
Schließlich will auch sie nur raus aus diesem Kaff. Als Statistin wird ihr eine Mutter zur Seite gestellt, die nicht nur dies missbilligt, sondern offenkundig auch von den Seitensprüngen ihres Mannes Daland Kenntnis besitzt. Nicht nur für Senta kommt es anders als erwartet: Wenn im dritten Akt die Gang des Holländers zum an diesem Abend coronabedingt übertragenen Gegengesang ansetzt und ihr Chef im sehr statisch inszenierten Handgemenge plötzlich drei Mann erschießt, zeigt sich Senta erbost und schockiert. Sie will ihn zur Rede stellen und wird doch nur rüde vom rächenden Holländer bei Seite geschoben.
Mary tritt auf den Plan: Marina Prudenskaya spielt und singt die Mary mit fülligem Timbre und raumgreifender Intensität, die als enttäuscht-eifersüchtige Holländer-Verliebte diesen kurzum schnell erschießt. Die von Senta bis zum Tod gelobte Treue ist damit erfüllt. Dies begreifend, bricht sie in schallendes Gelächter aus. Schön, dass es damit an ihr ist, zu vergeben: Sie nimmt Mary das Gewehr aus der Hand, sie trostspendend umarmend. Damit ist letztlich ja auch die Erlösungsidee des Komponisten gerettet.
John Lundgren gab einen Holländer, der doch an nicht wenigen Stellen mit Indispositionen zu kämpfen hatte. Die Holländer-Arie des ersten Aktes geriet dennoch adäquat mit kräftig-angemessenen Ausbrüchen und dichter Gestaltungskraft. An Textverständlichkeit und der Darbietung großer Spannungsbögen dürfte noch zu feilen sein.
Der Eric von Eric Cutler bestach durch melancholisch ausgekostete Phrasierungen, die ins mitleidig-weinerliche, aber strahlend gesteigert der Rolle schön entsprachen. Mit cholerischen Attacken kämpfend, die fast zu körperlicher Gewalt an Senta führen, aber in der Schlagbewegung selbst wehleidig aufschreiend, zeigte sich Senta auch hier schon als die vom Komponisten erträumte, starke Frau, wenn sie in sogleich tröstlich-vergebend verarzten will.
Durch das präzise Spiel und Lippenbewegungen der Chorstatisten auf der Bühne vermochte fast kaum bemerkbar gemacht werden, dass die Chöre, parallel im Chorsaal von Eberhard Friedrich in Plexiglas-Einzelkabinen dirigiert und durch Glasfaserkabel an vor der Bühne und je nach Spielrichtung mit bis zu 60 Lautsprechern im Bühnenbild integriert digital ins Festspielhaus eingespielt wurden. Die raumgreifende Plastizität gleichwohl konnte besonders im dritten „Chorakt“ nicht erreicht werden. Zudem sorgte eine zurückhaltende Personenführung für einige Statik und langweilige Beliebigkeit.
Unter besonderer Beachtung stand das erstmalige Dirigat einer Frau am Pult des Festspielorchesters: Oksana Lyniv konnte ihren ersten Auftritt bei den Festspielen als Erfolg verbuchen. Die Passagen der sturmumtosten Ouvertüre in halsbrecherisch erscheinenden Tempi gestartet, verhedderte sie sich darin nicht. Auch zeugte die Herausarbeitung betont langsam gespielter Passagen wie dem breit gegebenen Steuermann-Lied und die luftig-leicht und federnd musizierte „Spinnrad-Musik“ des zweiten Aktes von der peniblen Einstudierung und Arbeit mit dem gut disponierten Festspielorchester, dem für die Festspielzeit im Falle einer Coronainfektion noch ein zweites „Backup“-Orchester zur Seite steht. Bisweilen offenbarten sich ein paar (wenige) Spannungslöcher durch zu abrupte Tempi-Wechsel.
Völlig indiskutabel am Ende Buhs für den Chor, während der tosende Applaus mit einigem Gestampfe auf den Bayreuther-Holzfußboden wie eine Befreiung für alle Beteiligten nach hoffentlich überstandener, langer Kulturpause wirkte.