„Jahr der Tschechischen Musik 2024“ in Prag

Das Nationaltheater zeigt eine Neuproduktion von „Rusalka“ im Fischteich, während die „Prodaná nevěsta“ im dritten Jahr als Spiel mit kulturellen Aneignungen punktet.

In diesem Jahr wird der 200. Geburtstag Bedřich Smetana begangen, aber schon seit 1924 wird in Tschechien aus diesem Anlass alle zehn Jahre ein Jahr der Tschechischen Musik gefeiert. Grund genug, seitdem alle Jahre mit einer „vier“ am Ende ein nationales Festival unter Einbeziehung verschiedener Institutionen mit einer Reihe von Konzerten und Aufführungen zu zelebrieren, bei dem der Suche nach einer tschechischen Identität aus dem Geiste der Musik gedacht wird.   

In diesem Jahr wird mit dem „Opera Nova Festival“ im Juni erstmals auch zeitgenössische und ausländische Musik mit einbezogen. Herzstück aber bleibt natürlich die Behandlung und Aufführung der tschechischen Säulen und Grundfeste, die Musik Smetanas und Antonín Dvořáks, dessen Todestag sich im Mai 2024 zudem auch noch zum 120. Male jährt.

Beide Giganten der Musik dominieren – natürlich absolut zu Recht – den Spielplan des Nationaltheaters und der Staatsoper in Prag. Zeugnis der ungeheuren Wirkmacht beider Komponisten von Weltrang der ungebrochene Publikumsandrang im „Národní divadlo“, dem Nationaltheater am Ufer der Moldau, wo 1901 Dvořáks „Rusalka“ uraufgeführt wurde. Im Interimstheater an gleicher Stelle hatte bereits 1866 Smetanas „Prodaná nevěsta“, die „verkaufte Braut“, das Licht der Welt erblickt.

Schon eine Stunde vor dem Vorstellungsbeginn der 8. Vorstellung der 14. Produktion von „Rusalka“, wie es im Programmheft heißt, bilden sich Schlangen vor dem Kartenbüro mit dem Schild „ausverkauft“. Und das, obwohl seit 2005 in der Státní opera, der Staatsoper am Rande des Prager Hauptbahnhofs, eine weitere Produktion (in gleichem Hause in fast identischer Besetzung!) läuft. Bis auf wenige Plätze sehr gut gefüllt war auch schon tags zuvor die Repertoireaufführung der „Prodaná nevěsta“, und das mitten in der Woche.

Allice Nellis, geboren im Tschechischen Budweis, zeichnet verantwortlich für eine „verkaufte Braut“ in einer Produktion aus dem Jahr 2022, die die volkstümliche Bodenständigkeit des Werks mit seinen Tänzen und (Volks-)Melodien in die Jetzt-Zeit überträgt und zudem noch ein augenzwinkerndes Spiel mit der kulturellen Aneignung betreibt. Das macht Spaß und regt zum Nachdenken an. Nicht nur die tschechischen Vorstädte, sondern auch die Banlieue-Vororte und Trabantenstädte dieser Welt sind ja sozial durchmischter Schmelztiegel, in denen Subkultur entsteht und gelebt wird. Und die dann irgendwann einmal auch in Hoch- und Mainstreamkultur übernommen große Reichweiten entwickeln und die Massen in den Bann ziehen. Zu Smetanas Zeit war das ähnlich: „Prodaná nevěsta“ spielt im ländlichen Böhmen, auf dem Land und in der Welt der Bauern und der einfachen Leute. Wo Heiratsvermittlung und traditionelle Riten unhinterfragt praktiziert werden und herrschen. Symbol und Ausdruck dieses Milieus – heute wie damals – drückt sich in der Musik aus. Damals wie heute wird das Gefühl der Zeit transportiert von den Melodien, die in die Welt getragen werden. Der Rap ist da nichts anderes als die böhmischen Volksweisen. Und das zeigt Allice Nellis eindrucksvoll in einem von Matěj Cibulka ausgestattetem Setting inmitten der Beton-Reihen-Hochhäuser der sozialen Brennpunkte in den Vorstädten. Dort wird gerappt und gefeiert. In der Ballett-Choreographie von Klára Lidová trinken und tanzen die Anwohner*innen zwischen Häuserfassaden und den Gemüsekisten. Ein bunte Glühlampen-Lichterkette sorgt für etwas heimelige Wärme, und auch die angestrahlten Wände (Video Art Design Michal Mocňák) verströmen den guten und schönen Mikrokosmos der Vielfalt.

Chor und Ballett des Nationaltheaters – photo: Ilona Sochorová
Chor und Ballett des Nationaltheaters – photo: Ilona Sochorová

Und damit beginnt auch das Spiel mit den Aneignungen: Rap oder Volksmusik, aus dem Geiste bestimmter Lebensweisen und originärer Haltungen heraus entstanden, sind ja somit selbst, in neuer Form für Mainstream und Opernhochkultur kompatibel aufbereitet, der Aneignung anheimgefallen. Ob nun das nun gut oder schlecht ist, mag dahingestellt bleiben.

So ist der Jeník von Richard Samek ein veritabler, wandlungsfähiger Opernsänger mit einer gehörigen Portion Italianità, der gleich zu Beginn als einziger Charakter des Stücks schon gecastet und besetzt wurde. Denn als Regieeinfall ist die Inszenierung am Anfang noch offen. Ein Regisseur-Statist (Martin Kubačák), über die Akte hinweg die Produktion entwickelnd, hat zum Vorsingen eingeladen. Gesucht wird eine Mařenka für den gesetzten Jenik-Star. Über die Aufführung hinweg ist die Partie daher mit zwei Sängerinnen besetzt, was sich zu einem interessanten Rollenspiel zwischen jugendlicher Leichtigkeit und wissend-gereifter Dramatik entwickelt, bei dem am Ende keiner von beiden (die eine Rolle) gewinnt. Obwohl doch Mařenka 1 (von Jana Sibera mit schauspielerischer Fulminanz und großer, wandlungsfähiger Ausdrucksstärke gegeben), zwischenzeitlich von den Kisten der Vorstädte fiel und von Mařenka 2 (Doubravka Součková in herber Lyrik) zunächst vertreten wird, teilen sich beide schließlich die Rolle. 

Wie wandlungsfähig und auf den Beifall heischenden Effekt Jenik aus ist, zeigt Richard Samek schön mit ständig begleitendem Fotografen. Im Vorstadt-Ghetto mit wallender Rasta-Haarpracht posiert er kiffend vor dem „No war“-Graffiti an der Häuserwand. Wo einstweilige Symbole des Widerstands zu Riten erstarrt sind: Ob „No war“, Rasta und Joints – auch der Zirkus zu Beginn des dritten Akts ist augenzwinkerndes Spiel. Biertrinkende weiße Indigene wie aus einem Karl-May-Film liefern sich eine ins gleißende Licht getauchte Tanzchoreographie mit weißen Affen.

Roman Janál (Indigener), Jaroslav Březina (Zirkusdirektor) – photo: Zdeněk Sokol
Roman Janál (Indigener), Jaroslav Březina (Zirkusdirektor) – photo: Zdeněk Sokol

Damit wird das immanente Nationalkolorit des Ursprungswerkes zwar nicht gebrochen, so doch in Relation gesetzt und abgemildert. Von besonderer Eindrücklichkeit gerät die Interpretation von Josef Moravec als Vašek, der als wunderbar klar intonierender Stotterer mit präzisen Phrasen transparent und formschön zu gestalten versteht. Auch der Kecal von Jiří Sulženko bringt mit gesunder Basstiefe und klangschönem Gestaltungsvermögen einige musikalische Brillanz in den Abend.

Im regelmäßigen Repertoirebetrieb mit tagtäglichen Aufführungen zeigt sich, was durchaus von Vorteil sein kann, – vor allem mit Blick auf Chöre und Orchester. So agieren Chor (Leitung Lukáš Kozubík) und Orchester an beiden Aufführungstagen mit einer selbstständigen Ausdrucksstärke und Plastizität, als gäbe und bräuchte es keiner weiteren künstlerischen Ausdeutung und Anleitung zu einer bestimmten Interpretation. Vielmehr scheint das Ensemble Werk und Musik so verinnerlicht zu haben, dass es kaum mehr als Einsatz und Taktung benötigt, ein aus sich selbst pulsierendes und situatives Kunstwerk dem Publikum zu bieten. Der Chor bietet von strahlend-einheitlicher Kraft zu abgestufter Stimmvielfalt eine rundum überzeugende und atmosphärisch packende Leistung. Besonders gilt dies für das Orchester: David Švec braucht zu beiden Vorstellungen seine Musiker*innen weder großartig mäßigend noch antreibend zu beeinflussen. Vielmehr entspinnt sich aus dem natürlichen Verlauf der Werke – zwischen einer erdig-raunenden Ouvertüre der „verkauften Braut“ und einem präzise-nuancierten Einstieg zu „Rusalka“ – die vom Orchester selbst entwickelte Dynamik, dramatische Sogkraft (bei „Rusalka“) und leicht-schmissig, aber viril ausgespielte Melodielinie (bei „Prodaná nevěsta“). Die Konsequenz dieser Handhabung ist allerdings, dass sich immer wieder Abstimmungsprobleme zwischen Graben und Bühne offenbaren, die durch eine klarere Vorgabe vom Pult und mehr Interaktion als großer Gestus, der solitär verendet, hätte vermieden werden können.

Als feststehende Bank und unverzichtbares Rückgrat beider Produktionen stellt sich das Ballett mit überaus fein choreografierten Szenen vor, die in Rusalkas Fischteich getanzte Teichbewohner*innen in diversen Inkarnationen variabel getanzt zum Besten geben.    

František Zahradníček (Wassermann), Alžběta Poláčková (Rusalka) – photo: Pavel Hejný
František Zahradníček (Wassermann), Alžběta Poláčková (Rusalka) – photo: Pavel Hejný

Fast ein Jahr wurde „Rusalka“ am Nationaltheater nicht mehr gespielt. Die neue Inszenierung in Lesart von SKUTR präsentiert sich als sehr symbolisch aufgeladene Ausdeutung der urslawischen Sage mit einer auf einen Natur-Fischteich-Mikrokosmos bezogene mythologische Erlebnis- und Erfahrungswelt. SKUTR – eine Anspielung auf „Scooter“ – ist nach eigenen Angaben „Tandem der darstellenden Künste“ und verbunden mit den Namen Martin Kukučka und Lukáš Trpišovský.

Der raumfüllende Naturteich mit zentral im Hintergrund platzierter Fischerhütte (Bühnenbild Martin Chocholoušek) ist Dreh- und Angelpunkt einer Tragödie der Beziehungen zwischen Mann-Frau und Mensch-Fisch, die durch variablen Wasserstand und tiefgründiges Wechselspiel der Bühnenelemente wie Lampen, die als Irrlichter auch Angelposen sind, beständig Bedeutungswechsel vollziehen, die sich auch durch die immer wieder wechselnde Höhe des Wasserpegels verdeutlichen.  

Rusalka – photo: Pavel Hejný
Rusalka – photo: Pavel Hejný

Gleich zu Beginn angelt der Prinz und die Wassernixe Rusalka zeigt sich interessiert. Wenn sie später den Köder geschluckt hat, ist es bereits zu spät, und die Tragödie nimmt ihren Lauf. Alžběta Poláčková mimt und singt eine Rusalka von dramatischer Tiefe und überzeugter Liebe, die in den großen, verzweifelten Ausbrüchen zu punkten, aber auch die zarten Piani fein zu gestalten versteht.

Aleš Briscein spielt einen Prinzen, der wie ein Angler erscheint, der keinen Fisch essen mag. Lediglich Jagdtrieb auf der Suche nach dem Unbekannten treibt ihn an. Sein Tenor wirkt daher auch nicht unpassend fahl, resignierend und in den Höhen angestrengt wie von der Last des Triebs eingeengt. Es sind kurzzeitige Gelüste, die er schon bald nach Rusalka durch die Prinzessin (Ester Pavlů mit strahlend-raumgreifendem Mezzo) zu befriedigen sucht. Triebbefriedigung wird groß geschrieben in der Neuproduktion, aber mit dezenten und zurückhaltenden Mitteln.

Die dicken Karpfen auf dem Grunde des Sees sorgen mit Anna Moriová (Kuchtik – Küchenjunge) mit funkelnd-strömenden Mezzo und Jiří Hájek (Hajný – Jäger) mit schmelzig-klaren Bariton für einen musikalischen Höhepunkt, während die Ježibaba von Jana Sýkorová mit flackernder Intonation weit hinter der Qualität des ansonsten doch recht ausgeglichenen Besetzungszettels zurückblieb.

Der Wassermann (Vodník) von František Zahradníček überzeugt mit deutlich intonierendem Bass-Bariton, wenngleich in manchen Passagen indifferenten Übergängen.

Das Opera Nova Festival findet vom 14. bis 22. Juni statt. Weitere Vorstellungen der „Prodaná nevěsta“ am 12. Juni, 28. August, 10., 19., 28. September und 16. Oktober. „Rusalka“ am Nationaltheater wieder am 2., 15. Juni, 21., 27. September, 11. Oktober.