„Ring“-Finale in Helsinki: Die Finnische Nationaloper beschließt mit der „Götterdämmerung“ ihre Zyklus-Neuproduktion vor bildgewaltigem Setting mit Finnland-Bezug und ausdruckstark ausgespielter Überwältigungsmusik.
Eigentlich hätte Anna Kelos Gesamtinszenierung nach der Premiere von „Rheingold“ im Jahre 2019 bereits zwei Jahre später fertig sein sollen, doch dann kam Corona dazwischen. Und so bog die Produktion in Lesart der Götz-Friedrich-Schülerin (der den „Ring“ in Helsinki einst selbst inszenierte) erst jetzt auf die Zielgerade ein. Herausgekommen ist eine Inszenierung, die die Zuschauenden auf eine packende Reise mitnimmt und in die mythologische Zauberwelt einführt. Das kommt an: Fast alle Vorstellungen der „Götterdämmerung“ ausverkauft, wird auch jeder Akt der besuchten Vorstellung am 1. Juni 2024 frenetisch bejubelt.
Eigentlich zeigt Anna Kelos nicht viel Neues, sondern lässt Bühnenbildner Mikki Kunttu in großen, zeitlos-naturalistischen, klassischen Bildern schwelgen. Das aber schafft Eindruck, und so ist dieser „Ring“ besonders für Neulinge ein guter Einstieg, denn die Bebilderung benötigt keine inhaltlichen und schon gar keine inszenatorischen Vorkenntnisse. Es ist ein „Ring“ für Einsteiger, der dann auch noch finnische Bezüge herstellt.
Denn unweit des Opernhauses befindet sich das Denkmal für Jean Sibelius, dem musikalischen Identitätsstifter einer finnischen Nation unter russischer Vorherrschaft. Seine Werke gründen auch auf Versatzstücken aus der nordischen Sagenwelt wie in Richard Wagners „Ring des Nibelungen“.
Dieser „Ring“ wagt den Schulterschluss: Im finalen Satz der „Götterdämmerung“ sind die monumentalen Orgelpfeifen des Sibelius-Denkmals im Bühnenhintergrund als variabel hoch und runterfahrende Elemente in Wellenbewegungen installiert, während auf den (im Sibelius-Park ebenfalls befindlichen) Felsen aus rötlichem Finnland-Granit die Rheintöchter ihren letzten Versuch starten, Siegfried den „Ring“ abzunehmen. Nur wenig später wird Siegfried am felsigen Uferstrand Finnlands erschlagen.
Sibelius und Wagner: Sibelius besuchte in jungen Jahren eine Bayreuther Vorstellung des „Parsifal“, wurde in der Folge aber kein Anhänger und Verfechter der Wagnerwelt. Aber dennoch: Beide setzten Mythen, aber vor allem auch die Natur in Töne – ein jeder auf unterschiedliche Weise.
Die Gibichungen kriechen aus dem Ei: „Faith, hope, love (Glaube, Hoffnung, Liebe)“ heißt die Skulptur mit Ring und Ei, die zur Verständigung zwischen Schweden und Finnland vor dem Schwedischen Theater in Helsinki errichtet wurde. Für Gunther (Tuomas Pursio mit schön weinerlicher und zögernder Intonation) und Gutrune (Reetta Haavisto mit warm, flutenden Sopran) ist das riesige Ei Schlafplatz und Rückzugsort vor der harten Realität, der sie zu entfliehen versuchen. Auch sie sind ja nur Opfer Hagens, der ihren Traum von Glaube, Hoffnung und Liebe ausnutzt und missbraucht. Gunther ist hypersensibler Hypochonder mit übersteigerter Angst vor jeder körperlichen Berührung. Seine steril-weiße Gibichungenwelt wird von Masken, Handschuhen und Desinfektion dominiert.
Siegfried als anpackender Kumpeltyp platzt dort distanzlos direkt herein: Daniel Brenna spielt und singt einen Siegfried von schön ausdifferenzierter Nuanciertheit. Mit lyrischem Ausdruck ohne Abstriche bis in die Todesarie („Wach‘ auf! Öffne Dein Auge!“), aber strahlender Intonation und guter Textverständlichkeit gerät ihm besonders die Erzählung im dritten Akt in packender Klarheit und authentischer Ausdruckskraft. Als er zu Beginn des zweiten Akts vor Brünnhilde und Gunther zurückkehrt, stutzt er ob des Rings an seinem Finger. Brenna interpretiert den Siegfried als Figur, die in fast vollem Bewusstsein Verrat und Missbrauch an Brünnhilde begeht. Den Vergessenstrank hätte er dafür eigentlich gar nicht hätte trinken müssen. Die dem Libretto mit Blick auf den von Brünnhilde entrissenen Ring innewohnende Unlogik wird damit nachvollziehbar aufgelöst und erklärbar.
Brünnhilde wird von Johanna Rusanen gespielt, aber vom Bühnenrand gesungen von Kirsi Tiihonen. Ihr jugendlich flutender Sopran mit silbrigem Timbre überzeugt besonders in den differenzierteren Passagen, wird aber durch zunehmende Unterstützung im Laufe der Vorstellung aus dem Graben immer besser in die Produktion einbezogen. Am Ende gerät ihr Schlussgesang bestechend und textverständlich.
Am Ende muss der Hagen von Rúni Brattaberg seiner immensen Ausdruckskraft mit Blick auf Intonation und raumgreifender Bühnenpräsenz Tribut zollen: Rabenschwarz tief und böse sein Bass, leicht anfällig in den Höhen, überragt er dennoch nicht nur mit seiner Statur das übrige Ensemble. Mit bedrückender Intensität die „Hoi-Ho!“-Rufe im zweiten Akt, ziehen ihn die Rheintöchter am Ende vor heiserem „Zurück vom Ring“ in die Tiefe.
Jukka Rasilainen gibt einen wie zahnlos-senil anmutenden Alberich, der mit viel zu kurzen Beinen (Kostüme Erika Turunen) Hagen ins Gewissen zu singen versucht. Die Waltraute wird von Tuija Knihtilä mit einiger nachvollziehbarer Dramatik gestaltet, wie auch die Nornen (Maiju Vaahtoluoto, Jenny Carlstedt, Sonja Herranen) der Ausdruckstärke der musikalischen Gesamtinterpretation entsprechen.
Vor allem die Rheintöchter (Marjukka Tepponen, Mari Polo, Jeni Packalen) gestalten zu Beginn des dritten Aktes mit einer selten zu vernehmenden, drängenden Intensität den letzten Versuch, das unvermeidliche zu verhindern. Hatten schon die Chöre unter Einstudierung von Marge Mehilane kraftstrotzend, aber präzise harmonierend zu punkten verstanden, so geriet die musikalische Darbietung mit Hannu Lintu am Pult des Orchesters der Finnischen Nationaloper zum Triumph: Dabei hatte es zu Beginn der bereits um 15 Uhr beginnenden Vorstellung gar nicht danach ausgesehen, die mit bisweilen verschleppten Tempi, die zu Spannungslöchern, aber auch Ungenauigkeiten führten, begonnen hatte. Mit dem Verlauf aber gelang ein präziser, packender und vor allem stringenter Zugriff auf die Partitur, die Zuschauer und Ensemble zunehmend in den Bann zog. Pulsierend, vielschichtig ausmusiziert und mit unbändiger Sogwirkung mit hoher Plastizität und naturalistisch, beeindruckte diese Interpretation im positiven Sinne mit der oft bemühten Charakterisierung als ausdrucksstark ausgespielte Überwältigungsmusik, die auch in den so wichtigen Übergängen, feinen Passagen und Crescendi viril und wechselvoll zu bleiben verstand.
Was bleibt am Ende? Nachdem der riesige Feuerring gelöscht und gebrochen plastisch nachvollziehbar wieder den Urzustand hergestellt hat, werden die Götter (ohne den zuvor verbrannten Wotan) um Fricka, Donner, Freia und Freia von der Regie zusammen mit den Bruchstücken der Sibelius-Orgelpfeifen im Wasser versenkt. Ob das Ende oder Neuanfang von Mythologie, Glaube oder Liebe ist, bleibt offen. Ein eindrucksvolles Ende für den Effekt und die Bühnentechnik, aber ein unbefriedigendes Ende für das Visionäre. Zu hoffen bleibt jedenfalls, dass der Gesamtring in Helsinki auch bald als Zyklus zu sehen sein wird.