„Satyagraha“ in Hannover

Spielzeiteröffnung an der Staatsoper Hannover: Mit einer umjubelten Neuproduktion von Philip Glass‘ Friedensoper durchleuchtet Daniel Kramer Mahatma Gandhis Zukunftsfähigkeit. Bühne und Personenführung beeindrucken mit feinster Ausdeutung bis in die kleinsten Details.

Krieg und Frieden, Umbruch oder Widerstand: „Satyagraha“, zu Deutsch „Treue zur Wahrheit“, legte in Südafrika den Grundstein zu Gandhis Freiheits-Bewegung, die mit zivilem Ungehorsam und gewaltlosem Widerstand am Ende bekanntlich auch Indiens Unabhängigkeit von der britischen Kolonialherrschaft bedeutete.

Philipp Glass hat sich in seiner 1980 uraufgeführten Oper, die mit „Einstein on the beach“ und  „Akhnaten“ über den altägyptischen Ketzerpharao Echnaton die so genannte Portrait-Trilogie bildet, dem frühen Wirken des 1948 ermordeten Freiheitskämpfers angenommen.

Dabei ist das Werk viel mehr als die chronologische Abfolge und Schilderung von Gandhis Wirken: Schon durch das Libretto in altindischem Sanskrit erfolgt die deutliche Setzung auf der Grundlage der „Bhagavad Gita“, jener den Hinduismus begründenden Schrift aus dem Mythen-Nationalepos „Mahabharatha“. Diese Oper ist damit religiöses Mysterienspiel, das jenseits von Raum und Zeit das Wesen und den Urgrund des Seins von Gandhis Wirken ergründen will. Und dies kann nur ohne die chronologische Abfolge von Szenen aus Gandhis Leben erfolgen. Glass‘ „Satyagraha“ zeigt sich damit auch als eine losgelöste Weiterentwicklung eines „Bühnenweihfestspiels.“ Mit seiner fortgeführten und noch rigoroseren Reduktion der Stilmittel, wie sie auch schon Richard Wagner in seinem „Parsifal“ als Mittel zum Zweck einer wie auch immer gearteten Religiösität dienten, gelingt Glass einfach und direkt ein Meditationsstück von hoher Sogkraft.    

Shanul Sharma (Gandhi) © Sandra Then

Die Diskontinuität der Chronologie wird nicht nur durch die mantrahaft und spirituell-wogende „minimalistic music“ ohne Blechbläser und Schlagwerk, sondern auch durch die Benennung der drei Akte nach Vorbildern Gandhis gestützt. Leo Tolstoi, Rabindranath Tagore und Martin Luther King sind die Sinnstifter für die einzelnen Akte, was den us-amerikanischen Regisseur Daniel Kramer nicht anficht, seinen Regiegedanken losgelöst von den großen Namen zu entwickeln.

Jenseits der Unendlichkeit spielen auch schon große Kinofilme wie „2001-Odyssee im Weltraum“: Kramer variiert die Gandhi-Ideologie über die Akte hinweg in die Zukunft und außerhalb der Erde im All. Im Bühnenbild von Justin Nardella schweben zu Beginn des ersten Aktes Gandhi, Krishna und Arjuna von oben in die Bühne hinein, um das Pro und Kontra des gewaltsamen Widerstands zu erörtern. Arjuna (Darwin Prakash mit strömenden Bariton) ist ganz Kriegstreiber mit roten Teufelshörnern und einer goldenen Kalashnikow-Gewehr, das zunächst wie eine Hippie-Gitarre aus der Zeit der Alt-68er mit Indienbezug erscheint (Kostüme Shalva Nikvashvili). Der Krishna bringt friedensstiftende Plastikblumen (Markus Suihonen mit rundem Bass), aber Flower-Power ist nicht mehr: Chor und Videos (Chris Kondek) thematisieren im Hintergrund die ewige Wiederkehr der gleichen Kriege, und Gandhi wird erschossen. In riesigen Lettern prangt „Gandhi assassinated“ über der Bühne, während Gandhi auf der Bahre betrauert wird. Es folgt die erste Reinkarnation der Satyagraha im plüschigen Design des Dschungelbuchs zur Zeit der britischen Herrschaft in Indien. Doch die paradiesischen Zustände um die herzigen Kuscheltiere um den schwarzen Panther Baghira & co., vom Chor gebracht, sind nur Schein: Schließlich war der Dschungelbuch-Urheber Rudyard Kipling durch und durch Kolonialist. Die Regie zeigt diese Doppelbödigkeiten augenzwinkernd-tränenrührig. So wird aus dem Dschungelbuchbild ein Bild mit allerlei Drogenpilzen, die zu jener Hippiezeit sehr hoch im Kurs standen.    

Im zweiten Akt ist die Zivilisation schon fast am Ende. Man schreibt das Jahr 2048, und inmitten riesiger Schrotthaufen darbt eine von Heilsversprechen hingehaltene Gesellschaft in der Hoffnung auf Erlösung. Wunderbar scheinheilig treten in weißem Erweckungskleid mit Heiligenschein die falschen Prediger auf und gaukeln der Gemeinde mit den Hashtags #sustainable, #yourfuture, #the_solution und #bonvoyage (in Lettern auf den Hintergrund projiziert) Abhilfe vor. Greenwashing lässt grüßen: Während verheißungsvoll Wasserspender verteilt werden, bereiten sich die Heilsprediger selbst schon auf die Reise zum Mond vor. Die rothaarige Frau Gandhis Kasturbai wagt den Aufstand und wird erschossen. Beatriz Miranda spielt und singt das mit hoher Intensität und warm-strömendem Mezzo.

© Sandra Then
© Sandra Then

Die Dystopie konsequent weitergedacht schließlich im dritten Akt: Das Video zeigt einen letzten Flug über die Erde im Jahre 3048. Es ist ein Urzustand ohne Menschen, der nun jenseits der Unendlichkeit, irgendwo im Nirgendwo wieder den Anfang zeigt. Vor Zellteilungs-Videos entspringen der Bühne samshafte Amöben in drei plüschigen Farben, die sich verbrüdern. Das ist hart an der Grenze zum Kitsch, und Gandhi tritt auf. Der Hintergrund eröffnet den Blick in die Technik des Bühnenraums, während der Zuschauerraum angeleuchtet wird.

Ist Gandhi nun zukunftsfähig? Mit dem auslaufenden Schluss zur Meditationsmusik liefert auch die Regie keine deutliche Antwort. Gandhi übergibt damit ein ziemlich unentschlossenes Heft des Handelns an die Menschen. Was darauf folgt, kann eigentlich nur wieder die ewige Wiederkunft des Gleichen sein. Ausweg sieht anders aus. Was Daniel Kramer damit umgeht, ist gleichwohl eine Antwort auf die dem Komponisten vorgeworfene Kritik, seine Oper propagiere naive Friedenstheorie. Und das, obwohl zuvor in vielen kleinen Regiedetails durchaus deutlich Stellung bezogen wird, bleibt am Ende doch die heute drängende Frage nach „Krieg“ oder „Frieden“ unbeantwortet.

In der Hauptrolle Gandhis überzeugt Shanul Sharma mit authentischem Spiel und nuancierter, variabel-passender Ausdrucksfähigkeit. Sein Tenor strömt mal angemessen fahl, dann versteht er in dramatisch-ausladende Intonation zu wechseln, um auch in zarten, meditativen Passagen punkten zu können.

Shanul Sharma (Gandhi) © Sandra Then

Der Chor unter Einstudierung von Lorenzo Da Rio agiert singend wie schauspielernd nuanciert und präzise. Das Staatsorchester Hannover wird von Masaru Kumakura aufmerksam und deutlich durch den Mantra-Musik-Teppich geführt, der so gar nicht simpel und eintönig, sondern gerade durch die Varianten und Rückungen, Doppelungen und Verzögerungen besondere Wirkung zu entfalten versteht. Lediglich in den Abstimmungen zum Chor hätte man sich bisweilen etwas mehr Präzision gewünscht.

Am Ende werden alle Beteiligten für diesen besonders gelungenen, weil handwerklich äußerst hochwertigen, bis in die kleinsten Details durchdachten Saisonauftakt bejubelt.