„Louise“ in Aix-en-Provence

Im Wartesaal zum Glück

Christof Loy inszeniert beim Festival d’Aix-en-Provence wieder mal ein klug psychologisiertes Frauenschicksal des 20. Jahrhunderts: Gustave Charpentiers  „Louise“.

Paris! Ein Traum. Die Stadt der Lichter, der großen Boulevards und des mondänen Lebens, das sie selbst nie führen werden, ist die Vision der armen Näherinnen, Verkäuferinnen und Küchenhilfen, die sich täglich aus den Vorstädten in die Metropole ergießen, heute noch. Auch Louise in Gustave Charpentiers genau 1900 uraufgeführter Oper träumt diesen Traum, so wie Tschechows Drei Schwestern aus der Provinz „nach Moskau“ streben oder Irmgard Keuns kunstseidenes Mädchen in Berlin „ein Glanz“ sein will.

© Monika Rittershaus
© Monika Rittershaus

Im Bühnenbild von Etienne Pluss im Hof der Archevêché des Festivals von Aix-en-Provence schimmert Paris nur noch müde durch das schmierige Glas der raumhohen Fenster. Es zeigt einen Wartesaal – einen Wartesaal zum Glück, das für so einfache Arbeitermädchen nicht recht gemacht ist. Christof Loy erzählt darin wieder mal klug psychologisierend wie aus familiärer Geborgenheit Gefangenschaft, aus Zuneigung Missbrauch wird und sich der Traum vom Ausbruch als Übertragung erweist.

Auf der langen Bank im Wartesaal sitzen Mutter und Tochter Louise, noch könnte man glauben, sie warten vielleicht auf Ergebnisse, die die Erkrankung des Vaters betreffen. Die Inszenierung versteht sich am besten rückwärts, vom Ende her: Es ist offenbar die Psychiatrie, in die die Eltern ihr Kind gebracht haben. Alles, was wir zwischendurch sehen, die Neckereien mit den Kolleginnen im Nähatelier, die Romanze mit dem Noctambule, eine Art Artist – des Lebens, und das große Künstlerfest auf Montmartre, es sind Erinnerungen oder gar nur Träume, die sie hier beim Warten wieder heimsuchen. Als der behandelnde Arzt als eben jener Noctambule erkennbar wird, muss man fürchten, dass selbst diese Liebe nur Schwärmerei eines psychisch labilen Mädchens für ihren Arzt und Retter war.

Freilich wurde Louise auch ziemlich bewusst in diesen labilen  Zustand gebracht. Von der Mutter sowieso, die sich eleganter hält, als es ihr kleinbürgerlicher Status erlauben würde. Hinter der Zugeknöpftheit verbirgt sich spürbar eine nie ganz befriedigte Lebenslust, eigentlich derselben Drang nach Paris, den sie sich nie erfüllen durfte an der Seite eines kleinen Lohnarbeiters, und den sie nun auch der Tochter nicht gönnt. Sie ist im Grunde eifersüchtig auf die Tochter, auch wegen der Zuneigung, die der Vater ihr entgegenbringt. Hält sie darum kurz und schlägt sie sogar. Symbolisch schließt sie im Wartesaal die Fensterläden, damit die Lichter von Paris nicht wie die Stimmen heraufdringen. Sophie Koch spielt die Mutter präzise-nuanciert in dieser Mischung aus Strenge und eigener Lust, stimmlich hat ihr Mezzo nun mehr Vibrato als früher, aber das passt zu dieser herben Figur.

© Monika Rittershaus
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Berückend ist es, dass Loy dann doch Louises Traum vom Glück auch mit Leben zu füllen weiß. Eben noch haben die Kolleginnen das so streng und bescheiden gehaltene Mädchen gehänselt für ihre erste Liebe, so dass sie in den Schrank floh. Aber ihr Charming Prince kam, in Frack und Zylinder, das Pariser Leben in Person, und nimmt sie, im weißen Hochzeitskleid aller Mädchenträume, zur Frau. Wenn sie nun ihr „Depuis le jour“ singt, zu ergreifend schlichter Melodie davon schwärmt, wie verwandelt alles seit dieser ersten Nacht der Liebe ist, geht das unter die Haut.

Elsa Dreisig hat sich den lieblichen, lyrisch schönen Klang ihrer Stimme bewahrt. Ihr Sopran kann noch immer so traumhaft leicht klingen, wie es Louise am Anfang auch ist. Er wird hier im Liebesakt nun von sinnlich erfüllter Leuchtendheit, und hält auch noch Stand, wenn gegen Ende die Partie immer dramatischer wird. Dass die Stimme da am Ende beansprucht wirkt, ist allerdings auch nicht zu leugnen. Hoffentlich bleibt sei mit noch Dramatischerem vorsichtig!  

Und Loy kann auch Party. Zum Künstlerfest entsteht aus ein paar Fähnchengirlanden und trikoloren Luftballons dank all der skurrilen Charaktere ein buntes Fest des Lebens, bei dem Louise zur Muse des Montmartre gekürt wird. Das hat mit wehender Nationalflagge am Vorabend des Nationalfeiertags am 14. Juli etwas von den traditionellen Feuerwehrbällen, die bis heute aus jenem Anlass gefeiert werden, und Charpentier (und Loy) holt die Signaltrompete gleich mit auf die Bühne.

© Monika Rittershaus
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Schrecklich die Fallhöhe, wenn nun die Mutter auftaucht, mit dem Hinweis auf die Erkrankung des Vaters Louise zurückzwingt in die Familie. Es ist die ewige Falle. Das Personal fegt die Reste der Party zusammen, als wär‘s eine Betriebsfeier im Krankenhaus gewesen. Und der Vater nimmt von Louise auf seinem Schoß Besitz, mit all der Übergriffigkeit, die wir im ersten Akt schon ahnten. Nun aber drastisch gespielt. Und zwar umso furchtbarer, als Louise schon selbst so im Missbrauch aufgeht, dass sie es ist, die den Vater erotisch aufreizt, ihn quasi mit dem Geliebten verwechselt. Was bei Charpentier immerhin mit der Befreiung endet, er lässt sie zuletzt aus der Familie fortgehen, wird bei Loy ein verzweifelter Sprung aus dem Fenster. Dann Schlussbild: Sie kommt aus dem Behandlungszimmer, endgültig gebrochen und den Eltern ausgeliefert.

Das ist ein Schocker. Was Ursache, was Wirkung war in dieser psychischen Deformation, lässt Loy klug offen. Spannend ist seine Erzählweise allemal. Man kann aber auch kritisieren, dass er damit einmal mehr die Frau als Opfer etabliert, wo Charpentier zur 19. Jahrhundertwende wie Ibsen mit Nora und der Frau vom Meer eine Emanzipation zeigt. Charpentiers Louise entkommt dem Familienzwang, und sie geht auch nicht unbedingt zu dem Noctambule, aber sie wird in Kenntnis des bei ihm gelernten Rechts auf Freiheit und Glück womöglich eigene Wege finden.

Adam Smith ist als Noctambule eine passend stattliche Erscheinung mit selbstbewusstem, aber oft auch etwas druckvollem Tenor, wo man sich Schmelz wünschen würde. Nicolas Courjal spielt den Vater mit schlacksigem Charme, spannend zwischen Zärtlichkeit, Übergriffigkeit und Entsetzen changierend. Über den zwischenzeitlichen Verlust der Tochter ist er offenbar gänzlich zum Alkoholiker und nachher auf die dekadente Großstadt schimpfenden Querulanten geworden. Mit großem, allerdings auch ziemlich vibratoreichem Bassbariton vermag er die Abgründe eines einst sicher hochbegehrten Typs für Frauen trefflich zu charakterisieren.

© Monika Rittershaus
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Viele Solisten, Chor und Orchester der Opéra de Lyon, wo die Produktion Ende Januar zu sehen sein wird, werden von Giacomo Sagripanti mit stringenter Hand zusammengehalten.  Charpentiers  Musik ist ein Traum, gerade wenn er von Paris und der Freiheit der Liebe, dem Selbstbestimmungsrecht der Menschen singen lässt. Da schlägt Paris den Takt wie in Brels „Valse à mille temps“, ruft die Stadt mit allen ihren vielfältigen Stimmen Louise ins Leben. Die durchkomponierte Oper ist sonst dem französischen Sprachduktus entlanggeschrieben, erörtert, schwelgt, feiert und führt zu dramatischen Aufwallungen. Herrlich die sinfonischen Préludes, zuerst wie in Puccinis „Tosca“. Am Ende schäumt es doch noch wie bei „Tristan“, klingt das Leitmotiv aus dem Duett mit dem Noctambule wieder auf, der chorstimmige Ruf der Stadt, der Freiheit. Bei Loy leider ein Trug.